Buch: Abgründe der Medizin

Wieselhoden als Verhütungsmittel, Aderlass gegen Blutverlust oder glühende Eisen bei Liebeskummer: Aus heutiger Sicht mögen derartige Behandlungsmethoden völlig absurd erscheinen. Aber es gab Zeiten, da glaubte man fest an ihre Wirkung. Entweder, weil man wissenschaftliche Erkenntnisse bewusst ignorierte, oder weil die Medizin einfach noch nicht so weit war. Dieses reich bebilderte Buch ist ein ebenso informatives wie unterhaltsames Sammelsurium dessen, was den Menschen im Laufe der Jahrhunderte fälschlicherweise als Heilung versprochen wurde – und nicht selten das genaue Gegenteil bewirkte.

Zitierweise: HAUT 2021;32(5):262.

Auszug aus der Leseprobe*: Quecksilber wurde jahrhundertelang allerorts und von allen Gesellschaftsschichten verwendet, in flüssiger wie in kristalliner Form. Kalomel, auch Hornquecksilber oder Diquecksilberchlorid genannt, gehörte zur letzteren Kategorie [...] Vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert war er die Medizin schlechthin. [...] Kalomel an sich wirkt unscheinbar – ein geruchloses, weißes Pulver. Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Es ist so harmlos wie Ihr Tarnfarben tragender Nachbar mit dem Keller voller Knochen­sägen. Oral eingenommen hat Kalomel stark abführende Wirkung; [...] 

InformationLydia Kang (Ärztin für Innere Medizin und Autorin), Nate Pedersen (freier Journalist und Autor). Abgründe der Medizin – Die bizarrsten Arzneimittel und kuriosesten Heilmethoden der Geschichte. Hardcover, 352 Seiten, erschienen: August 2019, ISBN: 978-3-7423-0716-3, 19,99 Euro inkl. MwSt.

[...] Benjamin Rush war ein solcher Arzt. Als amerikanischer Staatsgründer und Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung setzte er sich für die Bildung der Frauen und die Abschaffung der Sklaverei ein. Er war ein Pionier in der menschenwürdigen Behandlung von psychiatrischen Patienten, auch wenn er leider der Meinung war, gegen psychische Beschwerden helfe am besten eine Dosis Kalomel. Zur Behandlung von Hypochondrie empfahl er Folgendes: „Quecksilber wirkt bei dieser Krankheit, 1.) indem es krankhafte Erregung vom Hirne zum Mund abzieht, 2.) indem es die Eingeweide von Verstopfung befreit und 3.) indem es die Klagen des Patienten vollkommen auf die Wundheit des Mundes lenkt. Der Speichelfluss ist von weiterem Nutzen, wenn er im Patienten zudem einen Groll gegen den Arzt oder Vertrauten weckt.“ [...] In Wahrheit ersetzte Rush die Hypochondrie durch eine Schwermetallvergiftung. Eine weitere Nebenwirkung bestand im Quecksilber-Erethismus, einer neurologischen Erkrankung mit Symp­tomen wie Depression, Angst, krankhafter Schüchternheit und häufigem Seufzen. Im Paket mit zitternden Gliedmaßen nannte man diese Beschwerden oft Hutmacher­syndrom (nach den Hutmachern, die beim Filzen Quecksilber einsetzten). Außerdem litten Vergiftungsopfer an Zahnausfall, Kiefer­fäulnis und Gangränen, die Löcher ins Gesicht fraßen und den Blick auf die Geschwülste von Zunge und Zahnfleisch freigaben. Rushs Heilerfolg bestand also darin, dass sich seine Patienten in ex­trem launische Zombiefilmkomparsen verwandelten. 

Quelle: Riva, Münchner Verlagsgruppe GmbH. 

HAUT meint:

Aus der Sicht des 21. Jahrhunderts können wir uns bei dieser Zusammenstellung historischer medizinischer Absurditäten wohlig gruseln, die Opfer dieser Behandlungen bedauern oder auch mal auflachen – aber immer sind wir froh und erleichtert, hier und heute zu leben. (Wobei man sich auch fragt, was kommende Generationen wohl von der heutigen Medizin halten werden.)

*Die ungekürzte Leseprobe und weitere Informationen finden Sie hier.