Der Wille zum Schönen als alles bestimmende Naturkraft und seine Bedeutung in der Medizin

Michael Musalek, Wien. Das Schöne ist als Urphänomen unserer menschlichen Existenz, als unmittelbar erlebbare Eigenschaft sowie als Urumstand und Urzustand menschlichen Erlebens aus unserem Leben nicht wegzudenken. Wir erleben Schönes ganz unmittelbar, gleichzeitig ist es aber keiner Erklärung zugänglich (7).

Platon nimmt in seinem Werk „Hippias maior“ bereits das vorweg, womit auch alle späteren Diskurse enden müssen, nämlich dass die Frage nach dem Schönen insofern unbeantwortbar bleibt, als das Schöne eben per se schön ist und damit als Urphänomen nicht weiter hinterfragbar bleibt. Schönheit, und damit natürlich auch das Schöne, gehören demzufolge „zu den gleichermaßen umstrittenen wie unhintergehbaren Begriffen europäischer Kultur“4

Wenn man sich mit dem Schönen im medizinischen Kontext beschäftigt, empfiehlt es sich, auf die Unterscheidung zwischen dem „Oberflächenschönen“ und „Tiefenschönen“10 zurückzugreifen. Das Oberflächenschöne erschöpft sich in Kosmetik, Dekoration, Ornamentierung und oberflächlicher Behübschung wie aus Beautysalons, banaler Schönheitschirurgie und Tätowierungs- bzw. Piercing-Studios bekannt. Demgegenüber rekurriert das Tiefenschöne auf das Erleben der inneren menschlichen Existenz, auf das innere Schöne, auf eine schöne Lebensgestaltung, auf Neuausrichtung und Transformation des Erlebens im Schönen. Michel Foucault3 sprach in diesem Zusammenhang von der Ästhetik der Existenz und meinte damit das menschliche Bemühen aus dem Leben „… ein Werk … zu machen …, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.” 

Das Schöne, sowohl das Oberflächen- als auch das Tiefenschöne, wird von uns aber nicht nur einfach als schön empfunden und wahrgenommen. Das Schöne bewegt uns: Es zieht uns an, es bewegt uns in unseren Emotionen und es gibt uns Kraft. In dieser Bewegung in diesem Drängen, aber auch als schier unerschöpfliche Kraftquelle in uns zeigt sich der Wille zum Schönen als alles bestimmende Urkraft. Diese Urkraft treibt uns auch an, selbst Schönes zu schaffen und in die Welt zu setzen sowie nicht zuletzt auch ein als schön erlebtes Leben anzustreben. Der Wille zum Schönen wird auf diese Weise mit und in uns zum Kulturgeschehen8. Oberstes Ziel jeder Kultur ist es, schönes Leben zu ermöglichen, das von den allermeisten Menschen als ein weitgehend autonom geführtes und im Wesentlichen freudvoll erlebtes charakterisiert wird.  

Ein autonomes und freudvolles ­Leben ist zugleich auch ein ­psychisch gesundes Leben6

Die WHO12 definiert Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen, sondern darüber hinaus als körperliches, psychisches und soziales Wohlsein, womit sich die Frage stellt, was unter psychischem Wohlsein zu verstehen ist. Fasst man die diesbezüglichen Studien und Publikationen zusammen, so werden zwei Interpretationsstränge sichtbar: einer, der auf Whitbeck11 zurückzuführen ist und mit ihm davon ausgeht, dass die Fähigkeit, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen („the ability to act or participate autonomously“), Ausdruck von psychischer Gesundheit ist – und ein zweiter, der in engem Zusammenhang mit den Arbeiten Nordenfeldts9 steht, der psychische Gesundheit als dann gegeben ansieht, wenn das Vitalziel eines im Wesentlichen als freudvoll erlebten Lebens (a person‘s state of minimal long-term happiness) erreicht ist.

Behandlungsprogramm zeigt Wege zu einem freudvollen Leben auf

Im Anton-Proksch-Institut Wien wurde ein individuelles Behandlungsprogramm, das Orpheus-Programm, für Suchtkranke entwickelt, das als oberste Zielsetzung ein weitgehend autonomes und im Wesentlichen freudvolles Leben ausweist. In verschiedenen Behandlungsmodulen, zum Beispiel Sensibilitäts- u. Sensibilisierungsmodulen, Aufmerksamkeits- und Achtsamkeitsmodulen, Naturerfahrungs- und Naturerlebnismodulen, Körperwahrnehmungsmodulen, Kreativitäts-, Kunst- und Kulturmodulen, Selbstreflexions- und Kosmopoesiemodulen sowie Genussintensivierungsmodulen werden dem Suchtkranken Möglichkeitsräume2 geschaffen, in denen er seine individuelle Form eines schönen und gesunden Lebens entfalten und entwickeln kann. Dabei gilt der Grundsatz „das Mögliche möglich machen“ als zentrale Leitlinie1,5. Aufgrund der Erfahrungen mit – nicht nur an Suchterkrankung – leidenden Patienten (z. B. Angststörungen, Burn-out, Depression, Demenz etc.) kann davon ausgegangen werden, dass der Behandlungsansatz des Orpheus-Programms auch bei anderen Formen von chronischem Leiden, etwa bei chronischen Schmerzsyndromen, entstellenden Hauterkrankungen, Tumor­erkrankungen oder anderen Erkrankungen, die mit massiven psychischen Belastungen oder Störungen einhergehen, zielführend eingesetzt und erfolgreich umgesetzt werden kann.

Literatur

1. Bernegger G. Das Mögliche möglich machen. Der Therapeut als Seiltänzer. In: Poltrum M, Heuner U (Hrsg.) Ästhetik als Therapie. Therapie als ästhetische Erfahrung. Parodos Verlag, Berlin 2015.
2. Bourdieu P. Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie. Suhrkamp, Berlin 2015.
3. Foucault M. Sexualität und Wahrheit. Bd.1-3. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1983.
4. Liessmann KP. Vom Zauber des Schönen. Reiz, Begehren und Zerstörung. Philosophicum Lech. Bd. 13. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010.
5. Musalek M. Das Mögliche und das Schöne als Antwort. Neue Wege in der Burn-out-Behandlung. In: Musalek,M, Poltrum, M. (Hrsg.) Burnout. Glut und Asche. Parodos, Berlin 2012.
6. Musalek M. Health, Well-being and Beauty in Medicine. Topoi 2013;32:171.
7. Musalek M. Der Wille zum Schönen I. Der Wille zum Schönen als alles bestimmende Naturkraft. Parodos Verlag, Berlin 2017.
8. Musalek M. Der Wille zum Schönen I. Der Wille zum Schönen als Kulturgeschehen. Auf dem Wege zur Kosmopoesie. Parodos Verlag, Berlin 2017.
9. Nordenfelt L. On the nature of health: an action theory approach. Kluwer, Dordrecht, 2. Auflage 1995.
10. Welsch W. Grenzgänge der Ästhetik. Reclam, Stuttgart 1996.
11. Whitbeck C. A theory of health. In: Caplan, AL, Engelhardt HT Jr., McCartney JJ (Hrsg.) Concepts of Health and Disease: Interdisciplinary Perspectives. Addison Wesley, London 1981.
12. World Health Organisation 1948. Preamble to the constitutions of the World Health Organisation as adopted by the international health conference New York, 19-22 June 1946; signed on 22 July 1946 by the representatives of 61 states (Official Records of the World Health Organisation, No 2, p. 100) and entered into force on 7 April 1948 (the definition has not been amended since 1948). 

Korrespondenzadresse

Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek
Institut für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit
Sigmund-Freud-Universität Wien
Freudplatz 1, A-1020 Wien
Postanschrift: 
Anton-Proksch-Institut Wien
Gräfin-Zichy-Gasse 6 
A-1230 Wien
E-Mail: michael.musalek@api.or.at