Glosse: Tätowierung oder die psychosoziale Bedeutung der dermatologischen Denaturierung

Burkhard Voß. Bei Naturvölkern sind die wesentlichen Merkmale eines Tattoos Symbolik und Ästhetik. Das kann man von den heutigen dermatochemischen Exponaten eher nicht behaupten.

Im Gefängnisfilm „Papillon“ von 1973 lässt sich der inhaftierte Hauptdarsteller (Steve McQueen) einen Schmetterling (franz. papillon) auf die Brust tätowieren. Dieses Tattoo ist Symbol für seinen Freiheitsdrang. Das Farbmuster der Flügel gleicht einem Spinnennetz, in dem die Farben eines Regenbogens plötzlich geronnen sind. Wie bei Naturvölkern sind auch hier die wesentlichen Merkmale eines Tattoos Symbolik und Ästhetik.

Insbesondere Letzteres kann man von den heutigen dermatochemischen Exponaten eher nicht behaupten. Das ist vorprogrammiert. Denn bei solch epidemieartigen Entwicklungen wird Kunst rasch durch Künstlichkeit ersetzt. Jeder ist seines Glückes Schmied, und so sieht es dann auch manchmal aus, das Glück – ziemlich behämmert, wie Eckart von Hirschhausen es einmal so schön formulierte. So gleicht manches Armtattoo täuschend echt einer wellenförmig abgeschnittenen Gurkenschale. Der Homo dermatopiktologikus behält die zurechtgedrechselte Gurkenschale ein Leben lang. Eine Entfernung ist zwar grundsätzlich möglich, aber das Ausmaß von technischem Know-how, Zeit und Geld ist nicht ganz unerheblich. In der Jahre bis Jahrzehnte währenden Zwischenzeit können sich Makrophagen an dem Fremdstoff so richtig schön abarbeiten – bis hin zu
Kreuzallergien, eventuell auch ein erhöhtes karzinogenes Risiko.

Überlegungen dieser Art sind natürlich voll normalo und spießig. Dass sich Vorstellungen, Geschmack und ästhetisches Empfinden über die Jahre und Jahrzehnte diametral zueinander verändern können – auch
diese einfachste Hirngymnastik ist heute eine Zumutung. Vielleicht gibt es demnächst ja eine Gegenbewegung und der Dermatocoach eröffnet seine Praxis direkt neben einem Tattoo- und Piercing-Studio. Könnte ja sein, dass dadurch die eine oder andere lebenslange dermatochemische Karnevalsfigur schon im Vorfeld vermieden
wird.

Aber wahrscheinlich handelt es sich bei meinen Ansichten nur um übelste, diskriminierende Gedanken eines reaktionären Bad Boys. Mit den Merkmalen weiß, männlich und heterosexuell gehöre ich sowieso zu den
Generalverdächtigen für alles Üble auf diesem Planeten. Die Ironie an der Sache ist nur, dass es die Tattoo-Aspiranten sind, die eine lebenslange Liaison mit der Selbststigmatisierung eingehen. Diese muss man tolerieren, zum Kotzen finden darf man sie trotzdem. 

Es muss etwas Bedeutsames dahinterstecken, was meinen holzschnittartigen Gedankengängen völlig entgangen ist. Schon gibt es Bücher zu dem Thema, aber über welches Thema gibt es kein Buch? Man gibt
sich tiefschürfenden Gedanken hin über die psychosoziale Bedeutung von Tattoos und Piercings. Denn alles hat eine psychosoziale Bedeutung, von der grün-rot karierten Unterwäsche bis zur veganen Ernährung
für den mexikanischen Zwerghund. Bei Tattoos ist von Rebellion gegen kulturelle Schönheitsauffassungen die Rede oder von heroischem Aushalten des Schmerzes als Preis für die narzisstische Vollendung. Mag sein. Solch tiefsinnige Bedeutungen werden wahrscheinlich deswegen vermutet, weil es in der grellen Tattoo- und Piercing-Szene sonst an Bedeutsamem fehlt. Tattoos in dieser Hochkonjunktur und auf immer größeren
Hautarealen sind subkutane Klecksografie der ästhetisch Verwirrten. Aber da wir Zeiten entgegen gehen, in denen es normal ist, dass nichts mehr normal ist, ist dies wiederum völlig normal.

Doch auch Tätowierte altern. So wird in nicht allzu ferner Zukunft die entscheidende morgendliche Frage in deutschen Altenheimen lauten: Welche Pampers passt zu welchem Steißgeweih?

Mehr vom Autor: "Albtraum Grenzenlosigkeit", Solibro Verlag, ISBN ISBN 978-3-96079-031-0.

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