COVID-19 und Sucht

Gibt es Hinweise darauf, dass sich während der COVID-19-Pandemie der Suchtmittelkonsum in Deutschland verändert hat? Der folgende Beitrag bietet hierzu eine Analyse und stellt die möglichen Auswirkungen und deren Relevanz für den haus­ärztlichen Bereich dar. Näher betrachtet wird der Konsum von Alkohol und von psychotropen Medikamenten. Ein Blick auf den problematischen Internetgebrauch in Form von Gaming und auf Aspekte häuslicher Gewalt, auch im Bezug auf Sucht, erweitert das Spektrum dieses Beitrags zu Sucht und COVID-19.

Diagnosekriterien

Nach der ICD 10 (WHO, 1993) gibt es sechs zentrale Symptomkomplexe des Abhängigkeitssyndroms von Suchtmitteln:

  • Unstillbares Verlangen
  • Konsumsteigerung, um die gleiche ­Wirkung zu erzielen (Toleranzentwicklung)
  • Entzugserscheinungen
  • Kontrollverlust
  • Vernachlässigung von Interessen und/oder Verpflichtungen
  • Inkaufnahme der Selbstschädigung.

Wenn mindestens drei der genannten Symp­tomkomplexe vorliegen, muss die Diagnose einer Substanzabhängigkeit gestellt werden. Die „Verhaltenssüchte“ sind in der ICD 10 noch nicht definiert.


Das zentrale Problem bei der Diagnosestellung des Abhängigkeitssyndroms bildet das Angewiesensein auf subjektive Angaben des Betroffenen, der jedoch die Substanzabhängigkeit, so lange es irgend geht, verheimlichen möchte und über weite Strecken das Problem noch nicht einmal vor sich selbst eingestehen kann.


Riskanter Konsum ist keine medizinische Diagnose, stellt jedoch ein Risiko für eine Schädigung durch die Suchtsubstanz dar. Riskant ist der Konsum von Alkohol bei einer Menge von mehr als 12 Gramm reinen Alkohols pro Tag bei Frauen und mehr als 24 Gramm reinen Alkohols bei Männern, falls dies fortgesetzt geschieht.Insofern ist der Hausarzt meist auf indirekte Hinweise wie das allgemeine Aussehen, auffällige Laborwerte, Foetor alcoholicus, Verhaltensauffälligkeiten, gehäufte Unfälle, neurologische Ausfälle oder auch fremd­anamnestische Angaben angewiesen. Der schädliche Gebrauch von Suchtmitteln (früher: Suchtmittelabusus/Suchtmittelmissbrauch) erfordert für die Diagnosestellung die Schädigung durch die Substanz.

Behandlungswege

Bei bestehender Substanzabhängigkeit kann ein unschädlicher Umgang mit dem Suchtmittel in aller Regel nicht wieder er­lernt werden, da epigenetische Prozesse zu einer Genaktivierung geführt haben, die einem kontrollierten Umgang entgegen­steht. Deshalb ist das Ziel die lebenslange Abstinenz. Sollte auch seitens des Patienten eine Motivation zur weiterführenden Inter­vention seines problematischen Umgangs mit Alkohol bestehen, so sind Sucht-Beratungs­stellen, die in fast allen größeren Städten mehrfach vorhanden und über das Internet gut zu recherchieren sind, die möglichen An­sprechpartner Und zwar sowohl für die Be­troffenen selbst als auch für die Angehörigen. Suchtberatungsstellen sind niedrigschwellige Ansprechpartner, die den Patienten auf dem Weg in die Abstinenz begleiten und unter­stützen. Während der Pandemie hat ihre Präsenz jedoch spürbar abgenommen. Vie­le ambulante Gruppenangebote sind nicht mehr möglich. Umso wichtiger ist somit ge­rade in der Zeit der Pandemie die Funktion des Hausarztes.


Sollte die bio-psychosoziale Situation des Patienten bereits vor der Eskalation stehen und der Patient selbst eine Bereitschaft zur Akutbehandlung haben, so sollte grund­sätzlich die Aufnahme in eine Einrichtung, welche eine qualifizierte Entzugsbehand­lung durchführt, angestrebt werden.


Die Begrifflichkeit der „qualifizierten Entgiftung“ bedeutet, dass diese in einer speziellen Einrichtung, zum Beispiel einer Abteilung einer Psychiatrie durchgeführt wird und neben der rein somatisch orien­tierten Entgiftung auch ein Konzept zur Behandlung des Patienten auf psychosozi­aler Ebene anbietet.

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Der Hausarzt spielt eine ganz wichti­ge Rolle bei der Identifikation der prob­lematischen Konsumenten und sollte bei Abhängigen zu einer Entgiftung motivie­ren. Die alleinige Entgiftung ist jedoch zur Aufrechterhaltung einer dauerhaften Abs­tinenz meist nicht ausreichend.

In den letzten Jahren hat sich neu er­geben, dass diese Abteilungen auch die Möglichkeit haben im Sinne eines so ge­nannten Nahtlosverfahrens, ähnlich dem AHB-Verfahren, Anträge auf eine medizi­nische Sucht-Rehabilitationsmaßnahme zu stellen. In der Regel bei der Rentenver­sicherung, bei nicht mehr erwerbstätigen Personen auch bei der Krankenversiche­rung.

 


Dies bedeutet in den allermeisten Fällen, dass es nahtlos von der in der Regel 21 Tage dauernden qualifizierten Entgiftung zu einer Aufnahme in einer stationären Thera­pieeinrichtung kommen kann.


Relevant dabei ist auch, dass der Patient ein dezidiertes Wunsch-und Wahlrecht hat, in welche Rehabilitationseinrichtung er kommen möchte. Dies kann die Akzeptanz dieser in der Regel dreimonatigen Behand­lung (in weniger ausgeprägtem Fällen kann auch eine sogenannte Kurzzeitbehandlung von acht Wochen ausreichend sein) extrem fördern.

Patientinnen und Patienten, die noch keine wesentlichen körperlichen Beein­trächtigungen haben und sozial hinrei­chend integriert sind, haben auch die Mög­lichkeit eine ambulante Suchtrehabilitation zu beantragen, was bedeutet, dass sie 1-2 Termine pro Woche in einer ambulanten Suchtbehandlung, wahrnehmen müssen. Diese ist mit Facharzt, psychologischen

Psychotherapeuten und Suchtthera­peuten besetzt. Die Einrichtungen, die alle nach einem bio-psychosozialen Behandlungsmodell nahezu alle Ebenen der Beeinträchtigungen berücksichtigen, bieten den Patien­ten die Chance, die Funktionalität ihres Suchtmittelkonsums zu erfor­schen und alternative Verhaltens­weisen aufzubauen.

Nachsorge

Sollte eine diesbezügliche Behandlung durchgeführt worden sein, ist die sogenannte Nachsorge, zu der auch regelmäßige Termine beim Hausarzt gehören sollten, ein wesentlicher Faktor. Suchterkrankungen, und dies bezieht sich leider auch immer noch auf die aktuellen Zahlen, bestehen in der Regel schon über zehn Jahre, bis der Weg in das Suchthilfesystem gefunden wird. Eine über einen so langen Zeitraum hinweg bestehende Erkrankung ist nicht innerhalb von 2-3 Monaten komplett heilbar.

Dementsprechend bedarf es eines aufeinander abgestimmten Behandlungsansatzes, um eine nachhaltige Abstinenz zu ermöglichen. Der niedergelassene Hausarzt bzw. die Hausärztin können hier eine wichtige Initialzündung geben.

Riskanter Gebrauch sollte durch Trinkmengenreduktion in unriskanten Konsum überführt werden. Hier sollte der Hausarzt aufklärend und beratend tätig werden und, wie auch beim schädlichen Gebrauch, ggf. an die Suchtberatungsstellen verweisen.Bei schädlichem Gebrauch geht es darum, entweder zu erlernen unschädlich zu konsumieren oder auf die Substanz ganz zu verzichten, wenn bereits Kontrollverlust vorliegt. Hier sollte der Hausarzt die vorliegende Schädigung aufzeigen und, falls der Betroffene es nicht aus eigener Kraft schafft unschädlich zu konsumieren, eine ambulante Psychotherapie oder eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in einer auf die Therapie des schädlichen Gebrauchs spezialisierte Klinik veranlassen.

Die kürzlich erschienene S3 Leitlinie der Behandlung von Alkohol formuliert in ihren Ausführungen zu den Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten von Hausärzten:

„Aufgrund der hohen Erreichungsquote von Menschen mit alkoholbezogenen Störungen durch den Haus­ärzt/die Haus­ärztin und der meist langjährigen Behandlung und oft auch Lebensbegleitung durch den Hausarzt/die Hausärztin hat diese/r einen wesentlichen Einfluss auf die Umsetzung einer Leitlinie in der Versorgung.“

https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html

Alkohol

Abgesehen von dem noch häufigeren Tabakkonsum ist der Alkohol das häufigste Suchtmittel in Deutschland. Circa 1,2 Millionen Menschen zwischen 18 und 65 Jahren sind alkoholabhängig. Hinzu kommen 1,6 Millionen Menschen, die schädlichen Gebrauch von Alkohol betreiben und 4 Millionen, die Alkohol riskant konsumieren.1,10

Alkohol ist für 6 % aller Todesfälle und für über 25 % der Sterbefälle in der Altersgruppe von 20–39 Jahren verantwortlich.2,10 29 % der Männer und 9 % der Frauen, die wegen einer somatischen Erkrankung in ein Krankenhaus eingewiesen wurden, weisen eine Alkohol-assoziierte Erkrankung auf.3

Die COVID-Pandemie geht mit erheblichen Restriktionen des „geselligen Beisammenseins“ einher. Hinzu kommt, dass über weite Strecken die Gastwirtschaften, Kneipen und Clubs geschlossen bleiben mussten. Insofern hat sich die Gelegenheit zum geselligen Alkoholkonsum erheblich reduziert. Andererseits begünstigt die Zurückgezogenheit auf den häuslichen Bereich während der Pandemie das Trinken zuhause, wobei sonst übliche Limitierungen wie die Teilnahme am Straßenverkehr und oft auch feste außerhäusliche Arbeitszeiten entfallen.

Dafür, dass sich das Geselligkeitstrinken zwar reduziert, das Trinken alleine jedoch verstärkt hat sprechen die Daten des statistischen Bundesamtes, wonach der Ein- sowie Verkauf alkoholischer Getränke während der Pandemie insgesamt in etwa gleich geblieben ist.

Manthey et. al (2020)4 schreiben dazu: „Der Alkoholkonsum ist in Deutschland weniger stark als in anderen europäischen Ländern zurückgegangen. Gründe dafür sind Zunahmen im Alkoholkonsum bei Frauen sowie bei Personen, die negative Auswirkungen im Beruf und Finanzen erlebt haben und bei Personen mit riskanten Konsummustern.“

Frauen haben auch vor der Pandemie deutlich weniger zum Geselligkeitstrinken als Männer geneigt.5 Sie setzen Alkohol in erster Linie zur „Betäubung“ bestehender Probleme und Sorgen ein. Die Befunde sprechen dafür, dass das Problemtrinken insgesamt während der COVID-Krise zugenommen hat und dass vor allem die Personen, die schon vor der Pandemie Alkohol dafür eingesetzt haben, ihre Stimmung zu verändern und unangenehme Gefühlszustände zu unterdrücken, dies jetzt noch intensiver praktizieren. Gerade diese Gruppe ist besonders gefährdet, eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln.

Aber während der Krise vermindern sich die Chancen, dass der Hausarzt die Entwicklung erkennen kann. Können wir normalerweise davon ausgehen, dass niedergelassene Ärzte (m/f) pro Jahr etwa 70–80 % derjenigen Personen, die missbräuchlichen Umgang mit Alkohol haben, sehen6, so ist demgegenüber der Arzt-Patienten-Kontakt (zum Beispiel durch die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung) während der Pandemie eingeschränkt. Dies bedingt eine geringere Chance, Hinweise auf Suchtprobleme frühzeitig zu erkennen.

Grundsätzlich sollte bei dem Vortragen bestimmter psychischer und somatischer Probleme auch die Möglichkeit eines problematischen Alkoholkonsums bedacht und erfragt werden. Beim Ansprechen dieser immer noch sehr Scham-besetzten und mit vielerlei Ängsten verbundenen Problematik, empfiehlt es sich, behutsam und empathisch nach einem möglichen Suchtmittelkonsum zu fragen.

Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Einsatz von Suchtmitteln von dem Betroffenen primär als vorteilhaft erlebt und dessen Aufgabe mit einem schmerzlichen, ängstigenden Verzicht gleichgesetzt wird. Deshalb entsteht Widerstand gegen das Eingeständnis eines Alkoholproblems.11


Unter Würdigung dieser Problematik geht es darum, dem Patienten zu verdeutlichen, dass eine Entwöhnung nicht nur Verzicht, sondern auch einen großen Gewinn an Freiheitsgraden darstellt.


Screening

Unterstützend kann der Screeningbogen Audit C eingesetzt werden, um eine orientierende Einschätzung zu gewinnen.

Eine Reihe von Biomarkern, die auf chronischen Alkoholkonsum hinweisen können, ist seit vielen Jahren in Verwendung. Dazu zählen die Gamma-Glutamyl-Transferase (GGT), die Alanin-Amino-Transferase (ALAT), die Aspartat-Amino-Transferase (ASAT) das mittlere korpuskulare Volumen (Erythrozyten) MCV sowie das Carbohydrat-Defiziente Transferrin (CDT). Die Serum GGT ist bei ca. 60–80 % der Personen mit einer Alkoholabhängigkeit erhöht.7

Medikamente

Der epidemiologische Suchtsurvey ESA 2015 geht von 2,65 Millionen Fällen klinisch relevanten Konsums von Medikamenten (schädlicher und abhängiger Konsum) in der Gruppe der 18- bis 59-Jährigen in der Allgemeinbevölkerung Deutschlands aus.

Die Gruppen der Benzodiazepine und Opioide stellen die beiden zahlenmäßig relevantesten Stoffgruppen dar: So gehen mehrere Schätzungen von 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen mit einer Benzo­diazepin-Abhängigkeit und von circa 600.000 medikamentös Opioid-abhängigen Patienten in Deutschland aus.8

Ebenfalls muss davon ausgegangen werden, dass relativ häufig ein polytoxikomaner Konsum betrieben wird, d.h. die gleichzeitige missbräuchliche Einnahme von drei und mehr Suchtstoffen. Psychische Erkrankungen, wie zum Beispiel Angststörungen, erhöhen diese Wahrscheinlichkeit um 50 % und das Vorbestehen einer anderen Suchterkrankung sogar um 300 %. Während der Pandemie ist mit einer Zunahme an Ängsten und in diesem Zusammenhang auch mit einer Zunahme von Anxiolytika-Gebrauch zu rechnen. Hieraus erwächst ein erhebliches Missbrauchs- und Suchtrisiko.

Wünsche von Patienten auf (Erhöhung einer) Verordnung von suchtpotenten Medikamenten sollten noch kritischer als sonst bewertet werden, insbesondere, falls sie von Patienten kommen, die nicht zum eigentlichen Patientenstamm der Praxis gehören (Gefahr des Ärtzehoppings).

Da die Verschreibungs- und Einnahme­häufigkeit bei Frauen und gerade bei älteren Menschen signifikant höher ist als in der allgemeinen Bevölkerung, diese beiden Gruppen aber durch die Pandemie besonders betroffen sind, ist hier bei der Verschreibung eine besondere Sensibilität notwendig. Die Mehrfachbelastung durch Home-Office, Home-Schooling und Haushaltsführung betrifft Frauen überdurchschnittlich.


Das Gespräch mit dem Hausarzt kann hier eine wichtige, entlastende und beratende Funktion haben.


Bei Diagnose eines schädlichen Gebrauchs von Medikamenten, respektive einer Medikamentenabhängigkeit, ist auch hier die unterstützende Vermittlung in eine Beratungsstelle und/ oder an eine qualifizierte stationäre Behandlungsinstitution zur Entgiftung indiziert. Daran sollte sich eine Entwöhnungsmaßnahme anschließen (siehe Leitlinie).12,13. Auch hier gilt, dass mit einer mittel- bis langfristig geplanten Behandlung zu rechnen ist und die Betroffenen dahingehend zu motivieren sind. Der Hinweis auf psychotherapeutische Notfallsprechstunden, beziehungsweise die Aufnahme einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung ist im Anschluss daran als Option zu bedenken.

Opiatsubstitution

Zur Vermeidung nachteiliger Auswirkungen auf die Sicherstellung der notwendigen Betäubungsmittelversorgung der Bevölkerung hat das Bundesministerium für Gesundheit am 20. April 2020 die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung (BanZ AT 21.04.2020 V1) für einen längstens bis zum 31. März 2021 befristeten Zeitraum erlassen.

In einer weiteren Ergänzung dieser Verordnung, die über den 31. März 2021 hinausgeht, ist in § 5 geplant, dass zur Sicherstellung der Substitutionsbehandlung von Opioid-abhängigen Patienten der substituierende Arzt:

  • jetzt mehr als zehn Patienten mit Substitutionsmitteln behandeln darf
  • über einen längeren Zeitraum hinaus auch von einem nicht suchtmedizinisch qualifizierten Arzt vertreten werden darf
  • Substitutionsmittel in der für bis zu sieben aufeinanderfolgenden Tagen benötigten Menge verschreiben darf

Auch darüber hinaus wurden in der Verordnung weitere Lockerungen der Vergabepraxis zeitlich limitiert festgelegt, die die Versorgung von Opiat-substituierten Patienten ermöglichen sollen. Damit erhält der niedergelassene Bereich mehr Handlungsfreiheit, aber auch mehr Verantwortung. Steigt die Anzahl der zu substituierenden Patientinnen und Patienten stark an, so ist die sinnvolle und notwendige psychosoziale Betreuung nicht mehr gewährleistet. Auch die diesbezügliche Zusammenarbeit mit Suchthilfeeinrichtungen ist aufgrund der Einschränkungen der „face to face“ Kontakte aktuell suboptimal.


Die Balance zwischen sinnvoller und notwendiger pharmakologischer Unterstützung zur Abwendung extremer Krisen ist schwierig, wenn gleichzeitig beachtet werden soll, die Sucht nicht unnötig weiter zu verfestigen. Hier ist der Austausch mit in diesem Sektor erfahrenen Kollegen oft sehr hilfreich.


„Die Landesärztekammer Baden-Württemberg weist darauf hin, dass insbesondere Opiat-abhängige und mit Methadon oder Buprenophin substituierte Patienten durch unkontrollierten Beigebrauch von Tranquilizern (Benzodiazepinen, Zolpidem u. ä.) sowie Psychopharmaka (Antidepressiva, wie z. B. Doxepin oder Neuroleptika, wie z. B. Clozapin) schwerwiegende unerwünschte Ereignisse erfahren können. Die Betroffenen nutzen zur Verordnung gerne Ärzte, denen sie nicht von der gleichzeitigen Opiatabhängigkeit mitteilen. Bei jedem auffälligen Verbrauch oder Verordnungswunsch, auch durch Drittpersonen, ist an diesen lebensgefährlichen Zusammenhang zu denken und ggf. danach zu fahnden.“

Gaming

Eine Studie der DAK9, welche die Internetnutzung und Gaming Zeiten untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen das aktuelle Gaming riskant oder pathologisch ist. Im Vergleich zum Herbst 2019 nahmen die Spielzeiten unter dem Corona-­Lockdown werktags um bis zu 75 % zu. Ob diese Veränderung auch über die COVID-­Pandemie Zeiten hinaus Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen hat, müssen sicherlich Längsschnittuntersuchungen zeigen.

Im niedergelassenen Bereich sind es oftmals die Eltern und Angehörigen, die sich Hilfe suchend und vertrauensvoll an ihren Arzt wenden, weil sie das Gefühl haben an ihre Kinder/Angehörigen nicht mehr heranzukommen. Neben den psychischen Auswirkungen auf die Betroffenen spielen auch somatische Folgen wie ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus, Ein- und Durchschlafstörungen sowie mitunter auch eine Fehlernährung eine besondere Rolle.

Dementsprechend ist es wichtig, bei entsprechender Symptomatik auch nach der Intensität und Häufigkeit des Internet-­Gebrauchs zu fragen. Erfahrungsgemäß stellt das Gaming im Internet gerade für junge heranwachsende Männer eine besondere Verführungssituation dar. Sich in unterschiedlichen Rollen mit anderen zu messen, wenn man ja sowieso aktuell wenig Möglichkeiten hat, sich mit Gleichaltrigen in irgendeiner Art und Weise zu „reiben“, ist eine große Verlockung. Im Online-Spiel ein höheres Level zu erreichen, ist ebenfalls oftmals viel reizvoller als die Aufgaben des Home-Office, der sinnvollen Ernährung oder auch der freundschaftlichen Kommunikation auf allen anderen möglichen Ebenen anzugehen. Sollten entsprechende Probleme in der Sprechstunde vorgetragen werden, kann zusätzlich ebenfalls auf Suchtberatungsstellen verwiesen werden. Diese können zunehmend auch digital kontaktiert werden. Hier wurden spezielle Konzepte zur Erreichung eines angemessenen Umgangs mit digitalen Medien erarbeitet. Für besonders problematische Fälle gibt es spezielle stationäre Rehabilitationsbehandlungen. Weiterhin wären auch hier die Kollegen aus dem Bereich der niedergelassenen Psychotherapeuten als Unterstützer zu nennen. Eine pharmakologische Intervention ist nicht indiziert.

Häusliche Gewalt

Das Thema COVID-19 und Sucht hat neben den bisher bereits dargestellten Bereichen sicherlich noch viele weitere Facetten. Ein im Bereich der niedergelassenen Kollegen leider nicht unerheblicher Aspekt aufgrund der Tatsache, dass das Thema Gewalt in Beziehungen und Gewalt in Familien – insbesondere auch in Verbindung mit einem Suchtmittelkonsum während der Pandemie leider zugenommen hat. Vor allem Frauen und Kinder sind betroffen. Alkohol und Drogenkonsum führen bei auftretenden familiären Konflikten zu unkontrollierten Affektdurchbrüchen, die oft Gewaltanwendung nach sich ziehen. Die Angehörigen konsultieren, wenn überhaupt, am ehesten ihrem Hausarzt, ohne jedoch die wirklichen Hintergründe zu nennen. Auch hier gilt es bei Verdachtsmomenten mit einer empathischen Gesprächsführung zu intervenieren,

Bei Hinweisen auf Gewalteinwirkung kann ggf. auch an die Gerichtsmedizin überwiesen werden, wo in manchen Bundesländern (z. B. im Saarland), die Möglichkeit besteht, anonym den Befund zu speichern, wenn die betroffene Person aktuell keine Strafanzeige schalten möchte, aber die Möglichkeit nicht ausschließen möchte, später darauf zurückzukommen . Bei Kindeswohlgefährdung ist eine Einschaltung des Jugendamtes zu bedenken.

Literatur

1 www.destatis.de/DE/Home/_inhalt.html
2 Weltgesundheitsorganisation (2001). Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit: ICF. WHO
3 Sänger MV et al. Dtsch Arztebl 2001; 98(33): A-2109/B-1827/C-1702
4 Manthey J. et al. (2020).Alkoholkonsum in Deutschland und Europa während der SARS-CoV-2 Pandemie. In: Sucht (2020), 66 (5), Hogrefe 2020.
5 Vogelgesang M. (2010) Psychotherapie für Frauen. Lengerich: Pabst.
6 Wienberg G. (1992). Struktur und Dynamik der Suchtkrankenversorgung in der Bundesrepublik – ein Versuch, die Realität vollstandig wahrzunehmen. In G. Wienberg (Hrsg.), Die vergessene Mehrheit. Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen (S. 12-60), Psychiatrie Verlag.
7 Conigrave C et al. Alkoholismus: Klinische und experimentelle Forschung 26 (3), 332-339.
8 Rumpf HJ & Weyerer S. (2006). Suchterkrankungen im Alter. In Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.) Jahrbuch Sucht 2006, (S. 189-199).
9 www.dak.de/dak/gesundheit/dak-studie-gaming-social-media-und-corona-2295548.html
10 John, U., Hanke, M., Freiyer-Adam, J ., Bauman, S., Meyer, Ch. (2019). Alkohol. In: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 19 (S. 36-51). Lengerich: Pabst.
11 Fachverband Sucht eV (2012). Drogen- und Suchtrat. Empfehlungen zur Früherkennung und Frühintervention bei alkoholbezogenen Störungen. SuchtAktuell, 19, 90-92.
12 Leitlinien für die Bereiche Alkohol und Medikamente:
S3-Leitlinie „Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (AWMF-Register Nr. 076-001): www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html
13 Die S3-Leitlinie Medikamenten -bezogene Störungen https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-025.html

Finanzielle Interessen: Monika Vogelgesang und Thomas Klein geben keine Interessenkonflikte an.

Nichtfinanzielle Interessen: Monika Vogelgesang ist Chefärztin der Median Klinik Münchwies, Neunkirchen und Vorstandsvorsitzende des Fachverbandes Sucht e. V. (Ehrenamt), sowie Lehrbeauftragte ua der Universität des Saarlandes. Thomas Klein ist Lehrbeauftragter der Technischen Hochschule Mittelhessen und Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e. V.Bonn.

Der WPV. Verlag fühlt sich der Regeltreue verbunden. Dessen datenschutzrechtliche Bestimmungen, die Empfehlungen und Richtlinien der Bundesärztekammer sowie die Kodizes zur Transparenz und Offenlegung von Interessenkonflikten, den verbindlichen Standard bei der Organisation, der Durchführung und der Veröffentlichung von Fortbildungsmaßnahmen dar.

Korrespondenzadresse:
Dr. med. Monika Vogelgesang, Chefärztin
MEDIAN Klinik Münchwies, Turmstraße 50-58
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