Niedergelassene und ihre Optionen in der digitalen Zukunft

Die Digitalisierung von Deutschlands Arztpraxen sollte längst in vollem Gange sein. Doch im Alltag schaffen die Technologien oft mehr Probleme, als sie lösen. Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein.

Es ist ein Szenario, das viele Ärzte so oder ähnlich wohl schon erlebt haben. Es ist Freitagnachmittag und die Krankenversichertenkarte (KVK) der Patientin lässt sich nicht einlesen. Das Ende des Quartals naht, die Abrechnung kann deshalb nicht aufgeschoben werden. Ohne KVK aber kann nicht über die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) abgerechnet werden. Entweder muss der Versicherungsnachweis bei der GKV erfragt werden oder es wird eine private Rechnung gestellt. Das ist umständlich und am Ende sind Arzt und Patient gleichermaßen unzufrieden.

In einer Umfrage des Ärzteverbands MEDI GENO Deutschland gaben 2018 48 Prozent der befragten Ärzte an, aufgrund der Konnektoren bereits Systemabstürze erlebt zu haben. Bei 64 Prozent kam es regelmäßig zu Verzögerungen.1 Verständlich, dass vor diesem Hintergrund der Frust in Bezug auf den vermeintlichen technologischen Fortschritt oft groß ist.  

Viele Ärzte sind gefangen zwischen den steigenden Ansprüchen der Patienten, den regulatorischen Grenzen, die ihnen Gesetze auferlegen sowie den IT-Firmen, von denen sie Leistungen beziehen. Zugleich fehlt es bei Ärzten selbst häufig am Wissen – und in manchen Fällen am Willen – sich mit neuen Technologien auseinanderzusetzen, IT-Probleme anzugehen und den digitalen Wandel mitzugestalten. Das zeigen auch die Zahlen: 2018 sind laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KVB) nur 56 Prozent der Patientendokumentation digitalisiert.2

Dabei sollte die Digitalisierung in Deutschlands Praxen bereits seit Jahren im Gange sein. Das Herzstück der Digitalisierungsstrategie, die Telematik Infrastruktur (TI), ist schließlich seit 2003 beschlossene Sache. Sie soll alle Akteure des Gesundheitswesens miteinander vernetzen und so den Austausch erleichtern. Seit dem 1. Juli 2019 sind alle Ärzte verpflichtet an die TI angeschlossen zu sein. Ist dies nicht rechtzeitig gelungen, droht den Vertragsärzten eine Honorarkürzung von einem Prozent.  

Ärzte aktiv einbinden

Auch die Initiativen von Bundes­gesundheitsminister Jens Spahn wie das Gesetz zur Digitalisierung des Gesundheitswesens und das im Juli 2019 beschlossene Digitale-Versorgung-Gesetz sollten Deutschlands Ärzte zu digitalen Vorreitern machen und die Umsetzung der TI anfeuern. Doch die Umsetzung hinkt der Vision hinterher. Anstatt sie mit Sanktionen unter Druck zu setzen, sollten Ärzte lieber aktiver eingebunden werden und die Vorteile des Digitalisierungsvorhabens vermittelt bekommen. Denn die sind längst nicht immer selbstverständlich. Oft führt die Digitalisierung im Alltag zu neuen Problemen, statt die versprochenen Erleichterungen zu bringen.
Damit Deutschlands Praxen den digitalen Anschluss nicht verlieren, braucht es einen langfristigen, ganzheitlichen Ansatz. Dazu müssen die Bedenken der Ärzte auf allen Ebenen ernstgenommen und ihnen frühzeitig entgegenwirkt werden.  

Mensch im Mittelpunkt

Unsere Erfahrungen zeigen, dass die digitale Transformation oft vor allem an kulturellen, weniger an technischen Aspekten scheitert. Wichtig ist es deshalb, den Menschen bei der Einführung neuer Anwendungen in den Mittelpunkt zu stellen und Technologie zu nutzen, um tatsächlich existierende Probleme zu überwinden. Technologie ist ein unterstützendes Hilfsmittel: Digitalisierung darf niemals aus Selbstzweck erfolgen, soll sie erfolgreich sein.

Das bedeutet zum Beispiel auch, dass die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Ständig steigende Patientenzahlen etwa sorgen nicht nur dafür, dass die Zeit pro Patient abnimmt – sie reduzieren auch die Möglichkeit neueste technologische Entwicklungen zu verfolgen. Insbesondere relevante Themen wie Datensicherheit und ein Verständnis für den richtigen Umgang mit Daten bleiben auf der Strecke. Die Unsicherheiten in Bezug auf die Patientendaten beunruhigen zurecht – und bremsen so die Umsetzung der Digitalisierung des Gesundheitswesens weiter aus.

Datenschutzrechtliche Bedenken

Dabei gibt es gerade hier dringenden Handlungsbedarf. Die KV Bayern etwa hat erst kürzlich ihre Bedenken bezüglich des Datenzugangs und der Datensicherheit der TI geäußert und dabei drei Hauptprobleme identifiziert.  

a. Risiken

Der Verband fürchtet unter anderem, Krankenkassen könnten auf Behandlungsdaten der Patienten zugreifen und im schlimmsten Fall Prämien anpassen oder bewusst Risikoselektion betreiben. Die KV Bayern sieht außerdem eine steigende Gefahr durch Hacker-Angriffe. Bisher wurden die Daten der Patienten lokal gespeichert. Wird ein solcher dezentraler, nicht verknüpfter Datenspeicher gehackt, können nicht mehr als die dort gespeicherten Daten erlangt werden.  

b. Datenspeicherung

Derzeit aber werden zentralisierte Lösungen von Krankenkassen gemeinsam mit externen Partnern entwickelt, die auf eine Datenspeicherung in der Cloud setzen. Diese Lösungen sind zwar bequem, könnten aber, so die Befürchtung, im Fall eines nicht autorisierten Zugriffs zu einem viel größeren Verlust an Daten führen. Hier braucht es Strategien und politische sowie technische Lösungen, um die Sicherheit der Patienten zu erhöhen.

c. Datenzugang

Als drittes Problem gilt die Speicherung der Daten selbst, aus der sich weitere, dringliche Fragen ergeben: Können wir alle Patientendaten lokal in Deutschland speichern? Sollen wir sie in die Hände der Kassen oder privater Technologiefirmen legen? Die sichersten Cloud-Services kommen zurzeit von Firmen wie Google oder Amazon. Ob man ihnen diese Daten überlassen will, ist eine Grundsatzentscheidung.

Trend zum Medizin-Technologen?

Neben dem Umfeld, in dem er sich bewegt, verändert sich die Rolle des Arztes selbst im Zuge der Digitalisierung immer weiter. Wie Marketingmanager, die heute immer mehr zu Marketing-Technologen werden, müssen auch Ärzte zunehmend zu Medizin-Technologen werden.

Um dorthin zu gelangen, gibt es verschiedene Ansätze, die im Idealfall gleichzeitig umgesetzt werden müssen.

1. Technische Ausbildung

Zunächst müssen Ärzte und Praxismitarbeiter eine angemessene technologische Ausbildung erhalten. Doch zum einen ist es aufwendig, Personen ohne Digitalhintergrund die notwendige Kompetenz zu vermitteln. Zudem sind solche Schulungen kostspielig und müssen bislang oft von den Ärzten aus eigener Tasche gezahlt werden. Außerdem braucht ein solches Training Zeit.

2. IT-Lehrplan im Studium

Die zweite Option besteht darin, langfristig eine angemessene technologische Ausbildung an der Universität zu gewährleisten und sicherzustellen, dass neue Ärzte die Chancen der Digitalisierung schon früh verstehen. Dabei geht es nicht nur um einen IT-Lehrplan, sondern auch um die sich ständig weiterentwickelnde Rolle des Arztes in einer digitalen Welt aus gesellschaftspolitischer und kultureller Sicht.  

3. Technologiezentren

Zuletzt braucht es praxisübergreifende Technologiezentren, die beispielsweise Zugang zu Cybersicherheitsexperten haben. Die ersten Schritte in diese Richtung sind gemacht und der Trend zum Zusammenschluss von Praxen und Einrichtungen hilft. Im Zeitraum von 2007 bis 2017 hat sich die Zahl der medizinischen Versorgungszentren (MVZ) fast verdreifacht. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der angestellten Ärzte in MVZ mehr als verfünffacht.3 In diesen größeren Praxen gibt es mehr Ressourcen, eine nachhaltige Strategie zu entwickeln als für den einzelnen Arzt.

Wenn Praxen beginnen, sich zusammenzuschließen und gemeinsame Kompetenzzentren für Technologie zu entwickeln, werden Ärzte in Zukunft sehr viel mehr in der Lage sein, das Gesundheitswesen proaktiv zu gestalten. Diese Zentren müssen dabei nicht unbedingt von den Praxen selbst finanziert werden, aber man sollte darüber nachdenken, ein „gemeinsames technologisches Labor“ zwischen verschiedenen Interessengruppen im Gesundheitswesen einzurichten.

Fazit

Am Ende ist klar: Um die heutigen Probleme im Praxisalltag nachhaltig mit der Hilfe von digitalen Lösungen anzugehen, braucht es einen echten Ökosystemansatz im Gesundheitswesen. Gesundheitsakteure auf allen Ebenen müssen enger zusammenarbeiten und lernen, Ziele gemeinsam zu erreichen, anstatt – wie bisher - zu versuchen, nur Eigeninteressen zu vertreten. Ärzten sollte daran gelegen sein, ein zentraler Bestandteil im neuen digitalen Puzzle zu werden.

1 BVOU, www.bvou.net/medi-umfrage-zur-ti-technische-schwachstelle-konnektor/

2 KBV, www.kbv.de/media/sp/PraxisBarometer_Digitalisierung_2018.pdf
3 KBV, www.kbv.de/media/sp/mvz_entwicklungen.pdf

Quellen: Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V., Kassenärztliche Bundesvereinigung, Kassenärztliche Vereinigung Bayerns, KMA-Online (kma Klinik Management aktuell)

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Thomas Hagemeijer

Consultant bei TLGG Consulting, er beschäftigt sich mit den Gesundheitssystemen der Zukunft.

thomashagemeijer@tlgg.de

Paul Amler

Studierter Volkswirt, er macht Strategieberatung bei TLGG Consulting mit Fokus auf die Gesundheitsbranche.

paulamler@tlgg.de