Schulterblick auf die Gesundheitsversorgung

Teil 1 Wissenschaftlichkeit in Digital Health

Die Situation im deutschen Gesundheitssystem ist paradox: Es ist nicht auf die Patienten ausgerichtet. Dabei soll die digitale Transformation sowohl die Patienten in den Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung rücken als auch den Ärzten unter die Arme greifen. Die Patienten sind bereit für digitale Anwendungen: 59 % von ihnen können sich vorstellen, eine digitale App als Teil der Gesundheitsversorgung für spezifische Krankheitsbilder zu nutzen – bei über 65-Jährigen sind es knapp 50 %.[1] Im Bereich Diabetes haben 2018 bereits 123.000 Patienten eine digitale Anwendung zum Selbstmanagement der Krankheit genutzt – bis 2022 soll sich diese Zahl auf 275.000 mehr als verdoppeln.[2] Das sind deutliche Anzeichen für einen strukturellen Wandel. Um zu profitieren, muss dieser Trend verstanden und entsprechend gehandelt werden.

 

Mit den Verschreibungsmöglichkeiten digitaler Leistungen innerhalb der Regelversorgung der GKV waren Ärzte und Patienten bisher weitestgehend auf sich gestellt. Es fehlte an digitalen Angeboten, die kollektivvertraglich erstattet werden. Stattdessen haben die gesetz­lichen Krankenkassen selektivvertragliche Möglichkeiten genutzt, um Verträge mit einzelnen Herstellern abzuschließen. Hier stand bisher meist die wettbewerbliche Abgrenzung durch wirksames Marketing zwischen einzelnen Kassen im Vordergrund − und nicht zwangsläufig der Nutzen für Patienten und Ärzte. 

Jeder Zweite fühlt sich für Beratung „schlecht gewappnet“

Daraus ergab sich ein unübersichtliches System, das eine zusätzliche Belastung für die Praxis bedeutete: Einerseits weil die digitalen Angebote sich nach Kassenzugehörigkeit unterschieden, und andererseits, weil es uneinheitliche Qualitätsstandards entlang der Dimensionen Wissenschaftlichkeit, Datenschutz und Barrierefreiheit gab. Es verwundert angesichts dieser Situation nicht, dass „56 % [der Ärzteschaft] sich schlecht für die Beratung rund um die Apps gewappnet“ fühlen und sich mehr Transparenz bei digitalen Angeboten wünschen.3

Das DVG schafft die regulatorischen Voraussetzungen, um das Gesundheits­system patientenzentrierter auszurichten.

Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) soll dieser Unübersichtlichkeit entgegenwirken. Als wichtiger Baustein soll das Gesetz einen neuen Zugangsweg für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) schaffen, die künftig von Ärzten verschrieben werden können. DiGA können entweder alleine vom Patienten oder von Patienten gemeinsam mit Ärzten genutzt werden. Dazu müssen sie im sog. DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gelistet sein und neben einer Zertifizierung als Medizin­produkt verschiedene Kriterien bezüglich Datenschutz und -sicherheit, Barrierefreiheit und Qualität erfüllen. 

Zusätzlich müssen die Anwendungen einen patientenzentrierten Nutzen (einen sog. „positiven Versorgungs­effekt“) nachweisen. Anwendungen, die ausschließlich einen Nutzen bei Ärzten schaffen (z. B. eine schnellere Befundübermittlung), qualifizieren sich nicht als DiGA.

Wirksamkeit

Nicht evidenzbasiert

 

            

 

Evidenzbasiert

Gesundheits-Apps

           

Medizin-Apps

          

DiGA

Abb. 1: Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit digitaler Gesundheitsanwendungen

 

Der Nachweis muss dabei den Regeln der evidenzbasierten Medizin folgen.4 Das bedeutet, dass die Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit bei DiGA deutlich höher sind als bei frei verfügbaren Gesundheitsanwendungen wie z. B. Gesundheits-Apps (s. Abb. 1). Der Fokus und die Überprüfung von DiGA unterscheidet sich deswegen deutlich von Nicht-DiGA (s. Tab. 1). Dies wird auch an einem Vergleich des Angebots deutlich: Während zuletzt 100.000 Apps als Gesundheits- oder Medizin-Apps gelistet waren5, stehen im DiGA-Verzeichnis zurzeit etwa zehn Anwendungen (Stand Oktober 2020). Bis Ende des Jahres ist ein Wachstum auf bis zu 30 Anwendungen vorstellbar, da viele DiGA-Hersteller kurz vor dem Antrag zur Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis stehen.

Bezeichnung

Gesundheits-Apps
(bisher)

Medizin-Apps
(bisher)

DiGA
(ab Oktober 2020)

Anzahl

> 100.000

< 200

~ 10

Definition

Generisch

Registriert als Medizinprodukt

Spezifiziert durch das DVG

Zielgruppe

Gesunde

Gesunde, Patienten, Angehörige, Ärzte

Patienten

Prüfung

Keine

Keine/Benannte Stelle*

BfArM

Erstattung

Nein, ggf. selektiv

Nein, ggf. selektiv

Ja, kollektiv

Tab. 1: Übersicht zu Fokus und Überprüfung von DiGA

*Benannte Stellen (wie z. B. der TÜV) müssen nur bei Medizinprodukten höheren Risikos eingebunden werden, bei sehr
niedrigem Risiko basiert die Registrierung auf der Selbstauskunft des Herstellers

 

Vorteile für ärztlichen Versorgungsalltag

Das DVG und das DiGA-Verzeichnis schaffen also Klarheit im sonst unübersichtlichen Markt der Gesundheitsanwendungen. Dadurch können sich Ärzte darauf verlassen, dass die DiGA hohe Anforderungen erfüllen. Da sich die positiven Versorgungseffekte einer DiGA immer am Patientennutzen orientieren, stellt sich die Frage: 

  • Welche Vorteile generieren die DiGA für den Arzt?

Die Beispiele der Tab. 2 zeigen, wie durch DiGA auch ein Nutzen für Ärzte entstehen kann. Im Falle einer DiGA im Bereich Diabetes kann z. B. verhindert werden, dass ein Patient mehrmals innerhalb eines Quartals aufgrund eines schlecht eingestellten Diabetes in der Praxis erscheint, um in zeitaufwendigen, sich wiederholenden Gesprächen notwendige Verhaltensänderungen erklärt zu bekommen. Bei einer DiGA im Bereich Depression haben v. a. Hausärzte die Möglichkeit, bestimmten Patientengruppen sofort helfen zu können, ohne Arzneimittel zu verschreiben, die einer Mengenbegrenzung unterliegen.

Fachrichtung

1 Diabetologie

2 Psychologie

3 Neurologie

Anzahl der Betroffenen in Deutschland (in Millionen)

Typ-2-Diabetes: 6,9

Depression: 5,3

Epilepsie: 0,5

Problem

Patienten fallen Verhaltensänderungen schwer

Unterversorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen; Warteliste für Behandlungsplatz

Umständliche analoge Dokumentation der Anfälle und bisherigen Behandlungen

Bisherige Probleme
für Ärzte

Zeitverlust durch sich wiederholende Gespräche mit dem Patienten über Verhaltensänderungen

Volumina für Leistungen und Medikamente erschöpfen im Praxisalltag schnell

Zeitverlust durch fehlende Längsschnitt- darstellung bisheriger Anfälle und Medikation

Funktion
der DiGA

Informationen und KI-gestützte Übungen zu Verhaltensänderungen mit digitalem Diabetestagebuch

Digitale kognitive Verhaltenstherapie bestehend aus Audios/Videos/Texten mit Hintergrundwissen, Übungen, Tagebuchfunktion und Evaluationen

Anfalls- und Behandlungsdokumentation durch Patient/Angehörige; optionaler Datenaustausch mit behandelndem Arzt

Nutzen für Patienten aus DiGA

Individuelle 24/7 Unterstützung bei Verhaltens­änderungen und besser eingestellter Diabetes

Patient hat keine Warte­zeit, Vermeidung von Medikationseinnahmen

Vereinfachte und immer verfügbare Möglichkeit der Dokumentation von Anfällen (auch durch Angehörige)

Nutzen
für Ärzte
aus DiGA

Informierte Entscheidungs­findung zur Behandlung und mehr Zeit für andere
Patienten erhöht Umsatzpotenziale

Volumina für Leistungen und Medikamente langsamer erschöpft; Fokus kann auf Patienten mit mittleren oder schweren Depressionsverläufen gelegt werden

Zeitersparnis durch grafische Übersichten zu bestimmten Zeit­räumen und informierte Entscheidungsfindung

Tab. 2: Beispiele für DiGA nach Fachrichtung und Nutzen

 

Tipps zur Einbindung in den Praxisalltag

  1. Ärzte sollten die entstehende Technik und die neuen DiGA verstehen, um die besten Empfehlungen für ihre Patienten aussprechen zu können. Als erster Schritt sollten sich Ärzte also mit den Anforderungen der DiGA auseinandersetzen (Teil 2 unserer Serie) und einen Blick in das DiGA-Verzeichnis werfen.
  2. Ärzte sollten den Dialog mit ihren Patienten suchen, um deren Einstellung gegenüber digitalen Anwendungen zu verstehen und die DiGA je nach Patienten optimal einsetzen zu können.

 

1  Bitkom, „Deutschlands Patienten fordern mehr digitale Gesundheitsangebote“.
2 Statista, www.statista.com/outlook/digital-markets
3 Barmer, „BARMER-Umfrage zu Gesundheits-Apps – Ärzte stehen digitalen Helfern offen gegenüber“
4 Dies wurde explizit im DVG (§ 139e SGB V) verankert „Die Regelungen [...] erfolgen unter Berücksichtigung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin.“
5 „Arbeitsbericht 179: Gesundheits-Apps“, Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags, September 2018
6 Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e. V., https://digitalversorgt.de/diga-verzeichnis/

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Paul Amler
Studierter Volkswirt, er macht Strategieberatung bei TLGG Consulting mit Fokus auf die Gesundheitsbranche.
paulamler@tlgg.de

Dr. Victor Stephani
Chief of Staff bei dem DiGA Hersteller ­HelloBetter und dort für die Umsetzung des DVG verantwortlich.

www.hellobetter.de

v.stephani@hellobetter.de