Geschlechtersensibles Wissen an den Universitäten unzureichend vermittelt

Geschlechtersensible Aspekte kommen im Medizinstudium an den meisten Fakultäten viel zu kurz. Doch jetzt erhält die Qualität in der Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung, für Frauen und Männer, mehr Aufmerksamkeit.

Das Bundesgesundheitsministerium hat 2019 ein Gutachten in Auftrag gegeben: Untersucht werden sollte der aktuelle Stand der Integration von Aspekten der Geschlechtersensibilität und des Geschlechterwissens in Rahmenlehr- und Ausbildungsrahmenplänen, Ausbildungskonzepten, -curricula und Lernzielkatalogen für Beschäftigte im Gesundheitswesen. Seit Ende 2020 liegen die Ergebnisse vor, die über einen Online-Fragebogen erhoben wurden, der an alle medizinischen Dekanate ging. Sie sind ernüchternd!

Die Untersuchung bestätigt eklatante Defizite bei der geschlechtsspezifischen Lehre in den deutschen medizinischen Fakultäten und den Institutionen der Lehre für Krankenpflege und Physiotherapie. An 70 % der medizinischen Fakultäten in Deutschland werden Medizinstudierende nur punktuell in einzelnen Lehrveranstaltungen auf die Geschlechterunterschiede bei Krankheiten, Symptomen und Therapien aufmerksam gemacht.

Studierende wünschen Genderlehre

Die Studierenden selbst sehen dies übrigens als Manko und ergreifen inzwischen eigene Initiativen, um sich besser mit geschlechtersensibler Medizin vertraut zu machen. In den Modell- und Reformstudiengängen ist die Integration von geschlechtersensiblen Inhalten übrigens häufiger gelungen als in den traditionellen Regelstudiengängen.

Die unzureichende Verankerung von Genderaspekten im Medizinstudium trifft inzwischen einen Nerv, wie das Interesse verschiedener Medien an dem Thema zeigt, nicht zuletzt, weil die Corona-Pandemie markante geschlechterspezifische Unterschiede aufzeigt. Es ist auch höchste Zeit: Schon 2016 hatte der Deutsche Ärztinnenbund eine orientierende Umfrage initiiert. Das Deutsche Ärzteblatt hatte daraufhin getitelt, die genderspezifische Lehre stecke „noch in den Kinderschuhen“.

Forderungen liegen auf dem Tisch

Inzwischen sind die Forderungen zur strukturellen Verankerung von gendermedizinischen Aspekten in den Curricula eingebracht worden. Sie müssen nun durch ministerielle Unterstützung erfüllt werden. Bislang lässt sich sagen: Der Handlungsbedarf wird erkannt. Es scheint sich herumzusprechen, dass Gendermedizin keine Geschmacksache ist, sondern ein sich erweiternder Wissenschaftsbereich mit klaren Verbindungen zur medizinischen Versorgungsqualität für Männer und Frauen. Alle wichtigen klinischen Fächer sind zu evaluieren, Genderaspekte sind zu implementieren. Man kann davon ausgehen, dass sich das Wissensgebiet „Gendermedizin“ ausbreiten wird, weil die Notwendigkeit unbestritten anerkannt ist.

Aktuell tut sich etwas

Leider hat allerdings das Charité-­Institut für Geschlechterforschung in der Medizin den Schwerpunkt geschlechtsspezifischer Forschung in Klinik und medizinischen Grundlagen auf andere Bereiche verlagert. Inzwischen gibt es aber auch positive Ansätze: Bei den Prüfungsfragen des IMPP (Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen) sind Formate für Genderwissen eingeplant und zwei von 36 medizinischen Fakultäten in Deutschland etablieren Professuren für Gendermedizin (Bielefeld und Magdeburg).

 

Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk ist Vizepräsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes und Vorstandsbeirätin der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin. Sie ist Ko-Autorin des BMG-Gutachtens und fordert eine Evaluation aller klinischen Fächer auf genderspezifische Inhalte der studentischen Lehre. Sie hat zusammen mit Dr. Ulrike Ley die Aktion „Pro Quote Medizin“ gegründet und beobachtet die Entwicklung der Repräsentanz von Frauen in klinischen Führungspositionen.

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