Sind Eltern neurodermitis­kranker Kinder hochsensibel?

Der Altersgipfel der Neurodermitis liegt mit knapp 10 Prozent in den beiden ersten ­Lebensjahren.[1] Aufgrund dieses frühen Krankheitsbeginns waren die Eltern neurodermitis­kranker Kinder schon seit den Achtzigerjahren mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Übereinstimmende Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die für die Entwicklung der Neurodermitis von ursächlicher Bedeutung sein konnten, wurden nie gefunden.[2] Eine aktuelle Studie ergab jetzt signifikante Hinweise auf ein klinisch bedeutsames Persönlichkeitsmerkmal.

In der Fachklinik für pädiatrische Allergologie, Dermatologie und Pneumologie auf Fehmarn glaubte man bei Eltern neurodermitis­kranker Kinder Hinweise auf Hochsensibilität beobachtet zu haben. Dieses Persönlichkeitsmerkmal wurde 1997 erstmals von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron beschrieben.3 Danach verfügen hochsensible Persönlichkeiten über eine erhöhte sensorische Verarbeitungssensitivität (SPS = sensory processing sensitivity) mit vertiefter, intensiver und subtiler Wahrnehmungsfähigkeit. Diese Persönlichkeiten seien einerseits empfindsam und einfühlsam mit einer Neigung zum übersinnlichen Denken, aber auch leicht beeindruckbar, erregbar, verletzlich und haben eine geringe Frustrationstoleranz. Der probatorische Einsatz Arons HS-Tests3 (HSPS = highly sensitive persons scale) bestätigte die klinischen Erfahrungen: Atopisch veranlagte Eltern neurodermitiskranker Kinder waren danach hochsensibel.


Studie zum Zusammenhang von Sensibilität und Atopie

Eine Pilotstudie mit 64 Eltern neurodermitiskranker Kinder sollte zuverlässig klären, ob ein Zusammenhang zwischen Arons Konstrukt der SPS und der Veranlagung zur Atopie besteht. Neben dem HS-Test wurden drei bewährte Persönlichkeits-Tests (Gießen-Test, Münchner Persönlichkeits-Test und das Freiburger Persönlichkeits-Inventar) eingesetzt. Verglichen wurden atopisch veranlagte mit nicht atopisch veranlagten Eltern sowie Eltern schwer und leicht kranker Kinder mit nicht atopisch veranlagten Eltern (siehe Kasten).

Die Untersuchung bestätigte die aufgestellte Hypothese: Die atopisch veranlagten Eltern waren hochsignifikant sensibler als die nicht atopisch veranlagten Eltern. Hohe HS-Test-Werte korrelierten nicht mit der Schwere der Erkrankung. Eltern leicht neurodermitiskranker Kinder waren sogar signifikant sensibler als Eltern schwer kranker Kinder.

 


Die Studie: Gibt es Hinweise auf Eigenschaften der „sensory processing sensitivity“ (SPS) bei atopisch veranlagten Persönlichkeiten?

Liffler P, Peters EMJ & Gieler U. 2019. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 65: 14–26.

Fragestellung

Klinisch erwecken die Eltern neurodermitiskranker Kinder oft den Eindruck der erhöhten Sensibilität. Untersucht wurde, ob die Eltern Eigenschaften der „sensory processing sensitivity” (SPS) wie außergewöhnliche Wahrnehmung und Verarbeitung, Überempfindlichkeit auf äußere Reize, erhöhte Erregbarkeit und Überforderung zeigen.

Methode

64 Eltern von neurodermitiskranken Kindern wurden mit dem HS-Test3 und drei bewährten Auskunftsfragebögen untersucht. Dabei wurden selbst atopisch veranlagte (n = 44) mit nicht atopisch veranlagten Eltern verglichen (n = 20). Außerdem wurden atopisch veranlagte Eltern leicht neurodermitiskranker Kinder (n = 24) und atopisch veranlagte Eltern schwer neurodermitiskranker Kinder (n = 20) mit nicht atopisch veranlagten Eltern neurodermitiskranker Kinder verglichen (n = 20).

Ergebnisse

Atopisch veranlagte Eltern zeigten im Vergleich zu nicht atopisch veranlagten Eltern eine signifikant höhere Empfindsamkeit, Erregbarkeit, eine stärkere Neigung zum esoterischen Denken und eine verringerte Frustrationstoleranz. Tendenziell signifikante Unterschiede zeigten atopisch veranlagte Eltern in drei weiteren Merkmalen: Die Grundstimmung war bedrückter, die Lebenszufriedenheit geringer und die Beanspruchung erhöht. Im Vergleich der atopisch veranlagten Eltern leicht kranker Kinder mit atopisch veranlagten Eltern schwer kranker Kinder fanden sich keine signifikanten Unterschiede.

Diskussion

Atopisch veranlagte Eltern neurodermitiskranker Kinder zeigen Eigenschaften entsprechend dem Konstrukt der SPS. Der Einfluss dieser Eigenschaften auf neurodermitiskranke Kinder, insbesondere die erhöhte Responsivität3,4 sollte im Rahmen weiterführender Studien untersucht werden.



Sensibilität im psycho­­physischen Kontext

Hochsensible Eltern zeigten in den übrigen Persönlichkeits-Tests Hinweise auf psychische Instabilität (Neurotizismus). Diese Ergebnisse widersprechen der Annahme, die Hochsensibilität sei eine evolutionäre Höher- und Weiterentwicklung der Sensibilität. Tatsächlich neigen Hochsensible vielmehr zur Überempfindlichkeit gegenüber unbedeutenden negativen Reizen. Die damit einhergehende Neigung zur Überbehütung und zu symbiotischen Beziehungen behindert den natürlichen Ablösungsprozess und die Entwicklung der Kinder zur Selbstständigkeit. Unter Berücksichtigung des Altersgipfels der Neurodermitis kann dieses Verhalten ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwicklung der Neurodermitis sein.

Ein erster Hinweis auf einen ursächlichen Zusammenhang kann aber die höhere Sensibilität der Eltern leicht kranker Kinder sein. Die fortschreitende Sensibilisierung der nachgeordneten Organsysteme (Haut, Schleimhäute und Immunsystem) spricht für eine psychophysische Korrelation, das heißt einen Abwärtseffekt der neuralen Sensibilität. Da Psyche heute als ein körperliches und naturwissenschaftlich erfahrbares Prinzip verstanden wird, geht man von einem Modell der neurophysiologischen Korrelation, das heißt einem neuralen Erregungskreis aus. Insofern handelt es sich bei der erhöhten Sensibilität nicht um eine sensorische Wahrnehmungsempfindlichkeit (SPS), sondern um eine neurale Wahrnehmungsempfindlichkeit (NPS). Der Zusammenhang Sensibilität und Atopie spricht für eine Sensibilisierung dieses Erregungskreises im Bereich des Furchtzentrums des Zwischenhirns. Die Prägung dieses Bereiches, der sich dem Bewusstsein entzieht, ist angelegt oder wird in der frühesten Kindheit erworben.

Wegen der verhältnismäßig geringen Fallzahl der Studie und der klinischen Bedeutung dieser Zusammenhänge sollten weitere Untersuchungen an größeren Fallzahlen und in unterschiedlichen Settings durchgeführt werden.


Nichtmedikamentöse Behandlung zeigt Erfolg

Das Behandlungskonzept der Klinik wurde bereits nach den Voruntersuchungen durch ein Konzept der systemischen Hyposensibilisierung angepasst. Nach dem Motto „Aktive Auseinandersetzung statt Vermeidung“ wurde eine wirkstoffarme, entwöhnende Behandlung der Haut praktiziert. Allergien wurden konsequent mittels sublingualer Immuntherapie (SLIT) hyposensibilisiert, die neurale Wahrnehmungsempfindlichkeit verringert, psychische Störungen, vor allem Ängste, psychotherapeutisch desensibilisiert und systemische Störungen in den Familien behandelt. Dieser Paradigmenwechsel hin zur vermehrt nichtmedikamentösen Behandlung führte zur deutlichen Verbesserung der Behandlungsergebnisse. Selbst bei hochgradig allergiekranken Kindern mit schwersten Formen der Neurodermitis konnte auf den Einsatz von Wirkstoffen wie Glukokortikosteroide, Calcineurininhibitoren, Antiallergika und Antibiotika verzichtet werden. Die Kinder zeigten nach durchschnittlich zwei Jahren keine Reaktionen selbst auf hochgradige Allergene.

 


Buchtipp

Der Allergie-Code  Neurodermitis, Asthma und Allergien verstehen und überwinden

In seiner Studie belegt Dr. Peter Liffler erstmals einen Zusammenhang zwischen erhöhter Sensibilität und den Erkrankungen des atopischen Formenkreises. Bei Hochsensiblen ist die Wahrnehmungsverarbeitung oft so empfindlich eingestellt, dass es zum Fehlalarm und überflüssigen vegetativen Stressreaktionen kommen muss (H. Seyle, Stress without distress 1974). Die Haut reagiert mit Entzündungen und das Immunsystem mit Sensibilisierungen. Die Entwicklung der Atopie kann nach Lifflers Überzeugung nicht am Ende der Kausalkette gestoppt werden, sondern da, wo sie ihren Ausgang nimmt, im zentralen Nervensystem.

Er entwickelte einen genau darauf zugeschnittenen systemischen Therapieansatz. Das Hauptziel ist die Normalisierung der Wahrnehmungssensitivität. Der Reset gelingt nur dann, wenn sich der Patient aktiv mit den Ursachen auseinandersetzt und auf Vermeidungsstrategien verzichtet. Die Herstellung des inneren Gleichgewichts ist die wichtigste Voraussetzung. Die hierarchisch angeordneten biologischen, psychischen und sozialen Teilsysteme werden zeitgleich behandelt. Das innere Gleichgewicht stabilisiert sich, der medikamentöse Behandlungsbedarf sinkt.

Peter Liffler, Der Allergie-Code – Neurodermitis, Asthma und Allergien verstehen und überwinden, 2019; 256 Seiten; 20,00 €; ISBN 13 9783963660085; Ullstein Buchverlage GmbH


1 Lampert T & Kuntz B. Tabak- und Alkoholkonsum bei 11- bis 17-jährigen Jugendlichen, KiGGS Study Group Ergebnisse der KiGGS-Studie – Erste Folgebefragung (KiGGS Welle 1), 2014.
2 Kratzer P. Neurodermitis und Mutter-Kind-Interaktion. Waxmann, Münster, 2000.
3 Aron EN & Aron A. Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology 1997; 73(2): 345–368.
4 Boterberg S & Warreyn P. Making sense of it all: the impact of sensory processing sensitivity on daily functioning of children. Personality and Individual Differences 2016; 92: 80–6.

Dr. med. Peter Liffler

Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
info@drpeterliffler.de

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