Supplemente und Mikrobiom: relevant für perioperative und ästhetische Medizin? (Teil 1*)

Sara V. Schnettler, Timm J. Filler. Der gezielte und bedarfsgesteuerte Einsatz von Nährstoffen zur Unterstützung von Therapien hat bisher nur in wenigen medizinischen Gebieten nennenswert Eingang in die ärztliche Versorgung gefunden. Im Rahmen dieses Beitrags können wir nur einen groben Wegweiser durch die Zehntausende von Nahrungsergänzungsmitteln geben. Darüber hinaus zu berücksichtigen ist auch die Rolle des Mikrobioms.

Schlüsselwörter: Biom, Darm-Haut-Achse, Haut-Darm-Achse, kommensale Keime, mikrobielle Endokrinologie, Mykobiom, Selen

Zitierweise: HAUT 2022;33(5):236-245.

Abstract

Targeted application of nutrients in line with demand to support therapies is by now only established in a few medical domains. In this article, we can only provide a rough guide through tens of thousands of dietary supplements. Furthermore, the role of the microbiome should be taken into account. 
Key words: biome, gut-skin-axis, skin-gut-axis, commensal germs, microbial endo­crinology, mycobiome, selenium

Mangel: oft erst erkannt, wenn er zum Problem wird

Für jeden einzelnen Nährstoff kann neben der optimalen Zufuhr eine schleichende oder akute Über- oder Mangelversorgung vorliegen. Vielfach noch wichtiger als die Quantität ist das Verhältnis von Substanzen zueinander, etwa von Kalzium zu Magnesium oder von Omega-3- zu -6-Fettsäuren. Im Allgemeinen werden bei Ernährungs­fragen Makronährstoffe betrachtet, wie Kohlenhydrate, essenzielle Fette und essenzielle oder semi-essenzielle Aminosäuren. Ein Zuwenig ist selbst bei Kohlenhydraten, von denen keine essenziellen Vertreter beim Menschen bekannt sind, möglich – obwohl darüber in der Literatur kaum berichtet wird. Das trifft z. B. bei einigen und durchaus verbreiteten hormonellen Störungen zu. Zu den Mikronährstoffen gehören dem­gegenüber die Gruppen der Mineralien wie Kalzium, Natrium oder Kalium, Spuren­elemente wie Selen, Zink oder Eisen und Ul­traspurenelemente wie Bor, Molybdän oder Silizium. Für viele der Spurenelemente werden ärztlicherseits vor allem toxische Überversorgungen in Betracht gezogen. 

*Teil 2 finden Sie HIER .

Jedem Vitamin können Ärztinnen und Ärzte eine Mangelerkrankung zuordnen und wenn sie nicht auftritt, gibt es keinen Mangel. Die Folgen einer dauerhaften geringfügigen Unterversorgung kommen im Medizinstudium nicht vor. Vitamine müssen zugeführt werden und eine Reihe weiterer Vitalstoffe sind ebenfalls essenziell oder nur begrenzt endogen verfügbar. Der Körper kann aber außerdem durch bestimmte Belastungen wie invasive Therapien relativ unterversorgt sein, oder eine vorher inapparente Mangelsituation ex­azerbiert. Die Herausforderung liegt darin, den Mangel zu erkennen, bevor er ein Problem wird1. Dummerweise gibt es dafür keine biochemischen Marker. Normale Serumwerte sagen nicht zwingend, wie es in den Zellen aussieht. Und für sehr viele Lebenssituationen, z. B. medizinische Maßnahmen, kennen wir den Bedarf nicht sehr genau. Auch „viel hilft viel“ ist nicht richtig. Dennoch wird im Supermarkt häufig zu Multivitamin-Präparaten gegriffen – in der Annahme „das kann ja nicht schaden“.

Wissen in der täglichen Praxis oft veraltet und lückenhaft

Das Wissen über Nährstoffe ist in der täglichen Praxis leider oft veraltet. Beispiele von verbreiteten, aber falschen Ansichten sind, dass Acne vulgaris oder rheumatoide Arthritis2 nichts mit Ernährung zu tun haben oder, dass es in Deutschland keinen Mangel gebe und Nahrungsergänzungsmittel bei einer gesunden Ernährung überflüssig seien. Das ist nur bedingt richtig, zumal fehlende klinische Zeichen nicht mit ausreichender Versorgung gleichzusetzen sind. 

Die Vorstellung, was eine gesunde Ernährung sei, entspricht zudem eher persönlichen Überzeugungen, ist nur selten mit dem heutigen Lebensstil kompatibel und kann nicht gerade als differenzierte Aussage angesehen werden hinsichtlich der großen ethnischen Breite der Bevölkerung in Deutschland. Unberücksichtigt bleiben auch die Bodensituation, die derzeit schon wirksamen klimatischen Veränderungen, die Sortenverarmung, die Schadstoffbelastung oder die Produktion – und das sind nur ein paar der Problemfelder, die im Hinblick auf gesunde Ernährung zu bewerten wären.  

So ist zwar allgemein bekannt, dass Deutschland ein Jod-Mangelgebiet ist, für Selen gilt diese Kenntnis jedoch nicht. Deutsche Böden gelten als arm an Selen. Selen ist jedoch als Cofaktor für antioxidative Seleno­enzyme (Glutathionperoxidasen, Iodohyronin-Deiodinase, Thioredoxin­reduktase) essenziell für den Schutz vor Sauerstoffradikalen3. Selenmangel führt also zu erhöhtem oxidativem Schaden an Zellen und Genen. Streng genommen ist diese Aussage zu pauschal. Die Biochemie von Selen ist kompliziert. Hat man sie nicht verstanden, kommt es schnell zu Pauschalurteilen, je nach Neigung pro oder contra Selen. Selen ist weder Bestandteil von Dünger, noch lässt sich der Mangel durch den Konsum von Para- oder Kokosnüssen beheben, da das darin vorkommende Selenomethi­onin nicht die gewünschte Wirkorte erreicht. 

Problem: Umweltschäden und industrialisierte Ernährung

Aber die Nutzpflanzen verarmen auch an Spurenelementen, die in hinreichender Menge im Boden vorkommen. Trockenperioden führen zum Absterben des Bodenbioms und damit für die Pflanzen zu einem Problem bei der Aufnahme von für Menschen relevanten Mikronährstoffen. In gleicher Richtung wirkt der Rückgang der Insekten, der mittlerweile schon fast 80 % erreicht hat. Damit werden mehr und mehr Pflanzen, die von der Bestäubung abhängig sind, ersetzt. Der wesentliche Teil der Mikronährstoffe aus der Nahrung kommt jedoch von den auf Bestäubung angewiesenen Nutzpflanzen. Dieses Problem hat sich noch nicht im Bewusstsein durchgesetzt. Die Sortenverarmung hat aber schon länger Vorläufer, die u. a. in einer Optimierung der Makronährstoffe (v. a. Zucker) gründet. Sie hat weder vor Bioprodukten Halt gemacht noch solche Transport- und Lagerbedingungen begünstigt, die für den Erhalt vieler Subs­tanzen bis zum Verbrauch erforderlich sind. 

Die Zunahme der Schadstoffeinträge in die Böden wird zwar mittlerweile intensiver bekämpft, doch reinigt das die Böden nicht und verhindert auch nicht, dass Tomaten „aus Italien“ typischerweise in China eingekauft und in Italien nur weiterverarbeitet werden. Nahrungsmittel werden nicht wie Medikamente kontrolliert. Zugelassene Grenzwerte, z. B. für Schwermetalle, sind immer auch politisch bestimmt. Selbst wenn sie eingehalten werden – es gibt zu Folgen von Langzeitbelastungen unter den Grenzwerten, wie wir das von Strahlenbelastungen kennen, keine Untersuchungen. Die generellen Folgen von industrialisierter Ernährung und „processed food“ sind zwar inzwischen akzeptiert, damit aber in Anbetracht des Bedarfs nicht gelöst. 

Nahrungsergänzungsmittel wirken indirekt

Nahrungsergänzungsmittel (NEM) sind keine Medikamente, sondern Nahrungsmittel, und folgen damit nur selten einer Wenn-dann-Beziehung. Sie haben insofern keine Hebelwirkung, sondern führen vor allem langfristig zu Veränderungen. Um mit NEM das Outcome interventioneller Verfahren zu optimieren, ist ein längerer Zeitraum erforderlich als wenige Tage vor einer Operation. Jedoch kann die postoperative Zeit noch in Teilen dazu genutzt werden und dann sind Patienten oft eher compliant. Es sind dabei aber weit mehr Faktoren als ein einzelnes Symptom zu berücksichtigen, das mit der Zufuhr eines Nährstoffes zu beseitigen wäre. Das Fehlen einer einfach erfassbaren line­aren Beziehung wird noch dadurch erschwert, dass vielfach die Effekte der Nährstoffe auf einzelne Symptome nicht messbar erscheinen und daher in vielen Publikationen als nicht signifikant beurteilt werden. Das liegt oft an falschen Zeit­räumen für die Untersuchungen. Oder auch daran, dass das Symptom zwar auf einen Mangel hinweist, aber die Behebung des Mangels das Symptom nicht direkt beseitigt.

Problem: keine Zeit für Diagnostik

Beispiel: Ein Patient kommt zur Voruntersuchung für eine kleinere Operation und Ihnen fallen Längsrillen seiner Fingernägel auf. Der Patient zuckt die Achseln, er nehme Kieselsäure und Vitamin D, aber es würde nicht helfen. Sie vermuten ein hormonelles Problem, haben aber nicht 3 bis 6 Monate Zeit, zu prüfen, ob Ihre Maßnahmen helfen (bei gesundem Stoffwechsel wäre der Fingernagel in circa 3 Monaten komplett ersetzt) und auch keine Sicherheit, dass die Fingernägel Ihnen das anzeigen. Dennoch kann eine so bedingte suboptimale Stoffwechsellage für das Outcome auch kleinerer Operationen relevant sein. Ein Optimieren der Voraussetzungen für eine Intervention in den Zielgeweben verbessert die Gewebequalität, beschleunigt die Heilung, verkürzt die postoperative Phase, reduziert das Infektionsrisiko und erhöht die Patientenzufriedenheit.

Viele Untersuchungen in der Literatur sind wie für Medikamente-Prüfungen gestaltet, auch wenn NEM genau das nicht sind. Es ist nicht möglich, mit Nahrungsmitteln Krankheiten zu therapieren. Nährstoffe, mit denen das funktioniert, werden in dem Moment zu einem Medikament. Diesen Unterschied sollte man im Blick haben.

Keine schnellen und einfachen Lösungen

Die medizinische Ursache eines Problems ist selten der primäre Wirkort von NEM. Sie können aber die Umstände beeinflussen, die die Ursache erzeugt haben. Eine systemische Störung des Abwehrsystems wie eine Allergie kann als Symptom ein entzündetes Augenlid zur Folge haben. Ursächlich für die Störung in diesem Beispiel könnte ein Zinkmangel sein. Periokulär ist das Gewebe besonders abhängig von Zink, sodass sich die Störung hier früh manifestiert. Der Zinkmangel selbst kann Folge einer Fehl­ernährung sein3. Das Beheben des Mangels ändert allerdings nicht mehr unbedingt die Folge des zuvor geschwächten Systems, da die Allergie von weiteren Faktoren abhängt. Dennoch ist das Abwehrsystem durch Zinkgabe stabilisiert und postoperative Infekti­onen sind seltener. Ein anderes Beispiel für solche indirekten Zusammenhänge ist trockene Haut in Folge einer Hypothyreose, z. B. bei einer autoimmunologischen Thyreo­iditis. Selen kann hier sehr erfolgreich zum Schutz des Schilddrüsengewebes eingesetzt werden, therapiert jedoch nicht die trockene Haut. Oft gilt es, erst das zugrunde liegende Problem zu finden. Das ist zeitaufwendig und entspricht damit selten dem Patientenwunsch nach einer schnellen Lösung oder den zeitlichen Möglichkeiten für ein Überzeugungsgespräch.

Zeitaufwendige Ursachenfindung

Hier wird neben dem Zeitproblem auch ein Definitionsproblem erkennbar. Ist die Ursache des tränenden, schmerzhaften und geröteten Augenlides die Entzündung? Oder muss z. B. ein autoimmunologischer Hintergrund herausgefunden werden, um ihn als Ursache zu therapieren? Oder ist das Auslösen des autoimmunologischen Prozesses die eigentliche Ursache und damit eventuell ärztlicherseits gar nicht zu beseitigen? Eine Nährstofftherapie ist keine ärztliche Behandlung und sollte daher nicht mit ihr in einen Topf geworfen werden. Sie ist grundlegender. Im Sinne des Wortes. Sie ersetzt auch nicht ärztliche Therapie, da sie nicht die Pathologie, sondern deren Voraussetzungen adressiert. Aber sie ist damit fundamental in multimodalen Konzepten für therapeutische Herangehensweisen. Ernährungsmedizin kommt in der ärztlichen Ausbildung nicht oder nur rudimentär und dann oft mit veraltetem Wissen vor. Die Ausbildung ist aufwendig. Eine Alternative wäre eine interprofessionelle Kooperation. Eine mehrtägige Antibiose zum Schutz der Wunde etwa stört das Darmbiom nachhaltig – und damit das vegetative und das enterische Nervensystem sowie die intrinsische und extrinsische hormonelle Steuerung des Darms. Es dauert viele Monate, das wieder zu verbessern und zu stabilisieren. 

Überdosierungen von NEM sind möglich

NEM können einen Mangel korrigieren, sie können aber auch zu einer Überversorgung führen und sie können mit Medikamenten interagieren4. Bei ungenügender Ausscheidung bei bestehenden Nierenschäden oder bei paralleler unkontrollierter Einnahme mehrerer NEM werden rasch die sinnvollen Tagesdosierungen überschritten. 

Produkte, die auf einen Inhaltsstoff fokussieren, aber wegen zahlreicher Beimengungen als Kombi­präparat gelten müssen, führen dazu, dass den Betroffenen nicht immer klar ist, was und wieviel sie einnehmen. Kombipräparate werden von den Patienten im Übrigen bevorzugt, um nicht zahlreiche Einzelpräparate einnehmen zu müssen. Im Zweifelsfall lässt man sich die Präparate zeigen oder den Hersteller nennen. Längst nicht alle Kombinationen sind sinnvoll, da sich die Inhaltsstoffe gegenseitig bei der Resorption hemmen können. Bekannt ist so ein Antagonismus von Zink und Eisen. Fälschlich angenommen wird dies hingegen von Kalzium und Magnesium. Der Kalzium-Transporter kann nicht Magnesium absorbieren. Manche Substanzen verstärken sogar die Resorptionsleistung für andere, sodass die an eine normale Resorption angepassten Dosierungen zu hoch werden. Kritisch wird es, wenn NEM mit Hormonen interagieren, die auch auf Mikronährstoffe wirken5

Der Bedarf ist nach Ethnie, Alter, Lebensphase, Geschlecht und Belastungssituation (z. B. Schwangerschaft und Stillzeit, Sport) verschieden. Bei fehlendem Erfolg lohnt ggf. auch der Blick auf die genetische Ausstattung. Während bei wasserlöslichen Subs­tanzen vor allem die Nieren im Blick gehalten werden müssen, kann bei Übergewicht das Verteilungsvolumen für fettlösliche Substanzen eine Rolle spielen. Störungen des Darms, insbesondere Barrierestörungen, verändern ebenfalls die Resorptionsleistung. Die Resorption ist einer der Parameter der Bioverfügbarkeit, die als Mess­größe dient für den im Blut als Verteilungsvolumen ankommenden Anteil der unveränderten Substanz. Daneben ist vor allem die Nutzbarkeit der Substanzen für den Stoffwechsel innerhalb der Zellen relevant. Für Magnesium – das mit Abstand am häufigsten gekaufte NEM – gibt es zahlreiche Kopplungen, um die Aufnahme aus dem Darm zu optimieren. Die verschiedenen Kopplungen haben aber sehr unterschiedliche Verfügbarkeiten in den Zellen der diversen Zielgewebe. Ausgerechnet für das Nervensystem stellen die meisten Präparate Magnesium nur in unbedeutenden Mengen zur Verfügung.

Das Biom als Voraussetzung für Aufnahme und Effekte von Nährstoffen

Anti- oder Reverse-Aging-Maßnahmen an und für die Haut sind, wenn sie ausschließlich topisch durchgeführt werden, weit weniger erfolgreich und nachhaltig als mit einer systemischen Unterstützung über die Nährstoffzufuhr. Einer der Gründer der nachfolgenden Betrachtung zur Bedeutung von Nährstoffen für die Haut ist der ukra­inische Nobelpreisträger (für seine Erforschung der Phagozytose) Elie Metchnikoff. Er beschäftigte sich später weit mehr mit dem Altern und postulierte bereits 1907, dass das Darmbiom wesentlich mit der Gesundheit und dem Altern verbunden ist6.

Medizinerinnen und Mediziner bleiben hinsichtlich Grund­lagen, die im Alltag weniger benutzt werden, oft auf dem Wissensstand ihrer Studienzeit stehenz. B. 7. Daher folgt hier eine sehr kurze Übersicht über die historische Vielfalt der unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Mikrobioms, unter denen heute behandelt wird. In den 1960er Jahren hielt man das Mikrobiom des Darms vor allem für ein internes Ökosystem, das, um eine Besiedelung mit pathogenen Keimen zu verhindern, alle Nischen mit harmlosen Keimen besetze und so eine Art symbiontischen Schutz darstelle. Es wurde jedoch in den 1970ern und 1980ern klar, dass hierin eine deutlich weitergehende Relevanz für die gesamte Gesundheit vorliegt. 

Mikrobiom des Darms: entscheidende Rolle für Immun- und Nervensystem

Ab den 1990ern rückte zunehmend die Bedeutung für die Kompetenz des angeborenen und adaptiven Immunsystems in den Fokus, wobei bald klar wurde, dass die immunologische Entwicklung fundamental davon abhängt. Zur Jahrtausendwende brachten Untersuchungen mit sterilen Tieren Erkenntnisse zu der beachtlichen Rolle des Mikrobioms für das Verhalten und andere zentralnervöse Wirkungen beim Wirt. Kommensale Bakterien fördern sogar z. B. über vagale Afferenzen die Aufnahme derjenigen Nährstoffe, die vor allem für sie nützlich sind. Mit dieser direkten Steuerung rücken mittlerweile zahlreiche Erkrankungen in ein neues Licht. Das Konzept der Darm-Hirn-Achse war damit etabliert.

Wie der Darm ist die nackte Haut des Menschen in besonderer Weise ständig Mikroorganismen und – anders als eine mit Fell, Schuppen oder Federn ausgestattete Körperoberfläche – weiteren Faktoren ungeschützt ausgesetzt. Das schränkt übrigens Vergleiche aus Tierexperimenten stark ein. Als eine der wesentlichen Oberflächen des menschlichen Körpers (vergleichbar den Lungen und dem Darm) ist hier eine besondere Abwehrsituation gegeben. Diese ist für ein Funktionieren von bestimmten Ausgangsstoffen abhängig (Spurenelemente, Ultraspurenelemente, essenzielle und semi-essenzielle Aminosäuren, essenzielle Fette, Vitamine und weitere Substanzen, die der Körper nicht herstellen kann). Die Vorstellung, dass die Haut für sich allein betrachtet werden kann, ist daher ganz klar irrig. Weniger klar ist jedoch, wie eine Haut von innen für eine Gesunderhaltung adressiert werden kann. Einfach ein paar Substanzen zuzuführen reicht nicht, denn Bedarf und Zufuhr sind vom Biom abhängig. 

Darm-Haut-Achse 

Während sich die Kenntnis über die vorzugsweise biomgesteuerte Darm-Hirn-­Achse allmählich bei vielen Medizinern durchsetzt und die Darm-Lungen-Achse durch die SARS-CoV-Pandemie an Sichtbarkeit gewonnen hat, führt die Darm-Haut-Achse eher ein Schattendasein. Sie wurde 1930 zum ersten Mal von Stokes und Pillsbury beschrieben8. Am ehesten sind hier noch genetische Faktoren untersucht. Als bedeutende Barrieren haben Darm und Haut viel gemeinsam und entsprechende Komorbiditäten, sodass man für das eine Interface von dem anderen lernen kann – eine Sicht, die in der dermatologischen oder gastroenterologischen Mainstream-Forschung bisher nur vorsichtig ankommt. Dabei gehen zahlreiche Darmerkrankungen durchaus mit Hautläsionen einher. Beispielsweise 14 % der Patienten mit Colitis ulcerosa und 24 % der Patienten mit Morbus Crohn haben entsprechende Manifestati­onen. Ein Link könnte die Bildung von kreuzreagierenden Antikörpern nach Eindringen von Antigenen durch die Darmschleimhaut sein9.

Darmbiom triggert Hautkrankheiten 

Hinsichtlich der Verbindung von Darm und Haut greifen zink­abhängige Metalloproteinasen in zahlreiche Regulationen von Zytokinen, Angiogenese, Adhäsionsmolekülen oder Defensinen ein. Sie werden vermehrt bei Entzündungen gebildet und wirken dann über diesen Herd hinaus systemisch10. Für das Gesicht ist dessen hohe Abhängigkeit von Zink interessant, da der erhöhte Bedarf am schnellsten in den zinkreichen Geweben gedeckt werden kann – mit entsprechenden Konsequenzen für das dortige Milieu. Entzündliche Prozesse primärer oder sekundä­rer Art beanspruchen die Reserven an Mikronährstoffen, womit ebenfalls unspezifische Fernwirkungen erklärbar sind.

Darüber hinaus kann eine Dysbiose zu einer Überreaktion bzw. zu einer gesenkten Schwelle für eine Reaktion von B-Lymphozyten führen, wodurch im Darm mittels M-Zellen und Enterozyten eine Störung der Interleukine, der Helferzell-Balance und der regulatorischen T-Zellen auftritt, die Teil der Pathophysiologie der Hauterkrankungen wird11 (Abb. 1). 

* FOXO1 gehört zu den die DNA-Transkription regulierenden Zellkern-Proteinen, die u. a. die Zellproliferation, -differenzierung und -lebensdauer regulieren.
** mTOR ist ein Regulator für Wachstumsfaktoren, der am Beginn der Transduktion steht und durch IGF (Insulin-ähnlicher Wachstumsfaktor) aktiviert werden kann.
*** Phagen oder Bakteriophagen sind auf Bakterien (hier die des Darmbioms) spezialisierte Viren.

Das Darmbiom triggert in engem Zusammenhang mit der Ernährung auch über das hormonelle System Hauterkrankungen, zum Beispiel die Acne vulgaris. Die Abbauprodukte von Molkerei-Erzeugnissen, rotem Fleisch und Kohlenhydraten sorgen für eine vermehrte Insulin- und IGF**-1 Produktion, womit einerseits die Signal-Transduktion von FOXO1* verzögert und andererseits die Aktivität von mTOR** gesteigert wird. Dadurch wird die Abschuppung der Haut und die Lipogenese der Talgdrüsen erhöht12.

Selbst harmlose kommensale Besiedelungen bei unauffälliger Physiologie scheinen eine Rolle bei der Entwicklung von Auto­immunität zu spielen13. Bestimmte Darmbakterien können wesentlich den Phänotyp der Haut beeinflussen14. Derzeit konzen­triert sich die Forschung überwiegend auf den Darm als Ausgangspunkt, obwohl die Haut selbst eine besiedelte Grenzschicht ist und damit ähnlichen Einfluss auf andere Systeme nehmen könnte. 

Vielleicht noch wichtiger als die durch Dysbiose des Darms und eine durch de­regulierte Nährstoffaufnahme gestörte Homö­ostase der Haut ist deren Allostase. Dies ist die dauerhafte und strukturelle Anpassung an die Belastung, die über die Darm-Haut-Achse kommt. Sie erfordert eine langfristige Behandlung und Modulation des Bioms mit Ernährungsumstellung. Insbesondere die involvierten Pilze und Phagen*** machen dieses aufkommende Forschungsgebiet zu einer Herausforderung. Umgekehrt ist für eine gesunde Haut-Homöostase ein funktionales Biom des Darms erforderlich, wobei unter anderem auch Metabolite von Darmbakterien wie Retinoinsäure oder Poly­saccharid-A benötigt werden15.

Konkrete und beeinflussbare Substrate der Darm-Haut-Achse

eine bedarfsgerechte Aufnahme von Mikronährstoffen für den Abwehrstoffwechsel 

die vom Darmbiom beeinflusste Entwicklung, Kompetenz und Kapazität des global wirkenden Immunsystems 

eine dysbiotisch getriggerte Abwehrlage des Organismus 

kreuzreagierende Antikörper aus dem Darm

die vom Biom beeinflusste metabolische Aktivität des Darms 

die metabolische Aktivität des Bioms 

die Kopplung von Darm und Haut über das zentrale Nervensystem

die vom Darm ausgehende Balance der vegetativen Innervation der Abwehrzellen

Ganzheitliche Behandlung nötig

Das Darmbiom hat eine erhebliche metabolische Kapazität, die der Körper auch intensiv nutzt, was bei jeder probiotischen, ma­kronutritiven oder Vitalstoff-Behandlung berücksichtigt werden sollte16. Die Metabolite, die bei Diäten anfallen, unterscheiden sich je nach der individuellen Ausgangssituation. Diese sollte daher für eine individuelle Herangehensweise mit erfasst werden. Dieser Aspekt fordert wegen seiner Mühen die Compliance der Behandelten und ist in der Kommunikation mit ihnen zu berücksichtigen. Schon das Missverständnis, dass eine Ernährungsanalyse in eine unerwünschte Bewertung der Essgewohnheiten münden könnte, kann viel beim Patienten verbauen. Stattdessen geht es darum, herauszufinden, in welche Richtung z. B. eine Mikronährstoffanalyse eingegrenzt werden kann, um den Therapierenden eine effektive und effiziente Auswertung zu erlauben. Patientinnen und Patienten sind es nicht gewohnt, in Know-how zu investieren oder sind zurückhaltend bei Arbeitszeitkosten, während die Bereitschaft für technische Untersuchungen bis zu einem gewissen Grade eher vorhanden ist. Hier ist ein rationaler Mittelweg zu suchen. Umgekehrt darf das die Therapierenden nicht dazu verleiten, primär Blutwerte zu behandeln. Im Vordergrund steht immer die Gesamt­problematik der Betroffenen, die mit einzelnen Werten nicht in den Griff zu bekommen ist. 

Darm – Haut – Gehirn – Abwehr

Zu den Parallelen von Darm und Haut gehören neben der massiven Kolonialisierung die intensive Vaskularisation, die sehr hohe Regenerationsrate, die hohe Dichte der Innervation, die jeweilige bedeutende neuro­endokrine Rolle und die komplexe Immunkompetenz. Neben Erkrankungen beeinflussen entsprechend auch Diäten die Haut nennenswert. Da beide Systeme zudem entscheidend mit dem Gehirn interagieren, handelt es sich eigentlich weniger um eine Achse als um eine tridirektionale Verbindung. 

Auch die vegetative Innervation spielt für Haut und Darm eine wesentliche Rolle. Für die immunologische Abwehr kommt der Innervation von Abwehrzellen und -geweben eine Schlüsselrolle zu. Sympathikus und Parasympathikus stehen unter physiologischen Bedingungen in einem balancierten Aktivitätsverhältnis. Bei Stress ändert sich – entsprechend der veränderten Aktivitäten beider Anteile des Vegetativums – über die immunotropische Innervation auch die Aktivität des Abwehrsystems17. Da das Vegetativum ferner vom Biom abhängt18, bedeutet eine Beeinträchtigung des Bioms (z. B. durch Ernährungsfehler), dass sich die Lage des Abwehrsystems insgesamt über dessen Innervation verändert19

Danksagung

Frau Christine Opfermann-Rüngeler danken wir für die exzellente Unterstützung bei der zeichnerischen Gestaltung und Umsetzung.  


Lesen Sie in Teil 2 (erscheint im Dezember 2022): Haut-Darm-Achse / Die Rolle der Pilze / Missverständnisse in der täglichen Praxis

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Korrespondenzadresse

MSc. Dr. rer. med. Sara V. Schnettler
Zaluto.Med
Werkstr. 8, 59494 Soest
E-Mail:  info(ett)zaluto-med.de

Prof. Dr. med. Timm J. Filler
Institut für Anatomie
Heinrich-Heine-Universität
Universitätsstr. 1, 40225 Düsseldorf

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