Wie der gegenwärtige Boom der Telemedizin unser Gesundheits­system strukturell verändern kann

Seit dem Ausbruch der Pandemie vermeiden viele Menschen den Gang zum Arzt. Viele Wartezimmer bleiben leer. Um behandelt werden zu können, ohne auf dem Weg zum Arzt oder im Wartezimmer mit anderen Personen in Kontakt zu kommen, greifen viele Patienten zu digitalen Lösungen wie Videotelefonie, also der Fernbehandlung und -diagnose mithilfe von Telekommunikationstechnologie. Wie dieser Trend sich künftig entfalten könnte, lesen Sie im Folgenden.

Es ist wahrscheinlich, dass auf die Video­sprechstunde weitere Bereiche der Telemedizin folgen werden und wir uns mit großen Schritten auf grundlegende Veränderungen des Gesundheitssystems zubewegen. Ein Überblick der wichtigsten Beobachtungen und Prognosen: 

1. Telemedizin wird zum Normalzustand 

Die Videosprechstunde ist nahezu über Nacht zu einem festen Teil unseres Gesundheitssystems geworden. Bisher wurde Telemedizin von Nutzern und Leistungserbringern eher stiefmütterlich behandelt: Wie eine Digitalisierungsumfrage von Civey und TLGG Consulting zeigt, kommunizierten noch im März 2019 nur 0,5 % aller Befragten per Videocall mit Ärzten, Therapeuten oder Apothekern1 – vielleicht auch, weil es am nötigen Angebot fehlte.

Doch das scheint sich jetzt zu ändern: Während im Februar 2020 nur ungefähr 4.000 Praxen Videosprechstunden angeboten haben, stieg die Zahl laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf heute rund 25.000 Praxen an.2 Das ist ungefähr ein Viertel aller Arzt- und Psychotherapiepraxen in Deutschland. In den USA nutzen seit Ausbruch der Pandemie 85 % der Ärzte, die an die virtuelle Ärztelounge Sermo angeschlossen sind, Videotelefonie oder Telefon für den Patientenkontakt.3

Diese Zahlen werden nach COVID-19 nicht abnehmen. Erstens laufen die Diskussionen über die Kostenerstattung für Telemedizin durch die GKV bereits, was deren Einführung weiter beschleunigen wird. Zweitens wurde der gesetzliche Rahmen während COVID-19 angepasst: Bisher durften Ärzte nur bis zu 20 % der Patienten mit Telemedizin behandeln, seit Mitte März sind Videosprechstunden unbegrenzt möglich.

Die Telemedizin wird sich voraussichtlich auch durchsetzen, weil sie den verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens eine Reihe von Vorteilen bringt. Patienten müssen weniger warten und haben einfacheren Zugang zu Ärzten, Leistungserbringer sparen Zeit und können effizienter arbeiten, Leistungsträger sparen Kosten. 

2. Teil eines umfassenderen Trends – Entflechtung des Krankenhauses

„Krankenhäuser verschwinden. Auch wenn sie vielleicht nie ganz verschwinden werden, werden sie in Zahl und Bedeutung weiter schrumpfen. Das ist unvermeidlich und gut so“, sagt Dr. Zeke Emanuel5, amerikanischer Onkologe und Bioethiker und einer der wichtigsten Architekten des Affordable Care Acts in den USA. Die Entflechtung des Krankenhauses wird auf verschiedenen Ebenen erfolgen:

Erstens werden neue Zugangspunkte entstehen, von denen Telemedizin nur einer ist. Tatsächlich sind Lösungen für die Pflege zu Hause (z. B. Cera), die Self-Service-Triage (z. B. Ada Health), oder Retail-Clinics (wie die CVS MinuteClinic) auf dem Vormarsch.

Zweitens wird die Einbeziehung von Patienten außerhalb des Krankenhauses durch Technologie zur Normalität werden. Die von der Charité – Universitätsmedizin Berlin durchgeführte Fontane-Studie6, bei der die Telemedizin für Herzpatienten zum Einsatz kam, verdeutlicht das Potenzial solcher Ansätze. Sie zeigt aber auch die Herausforderungen, diese Innovationen in den täglichen Arbeitsablauf des Krankenhauses zu integrieren. Daher könnten spezialisierte Zentren, die wissen, wie die Technologie für eine bestimmte Indikation eingesetzt werden kann, besser geeignet sein als die „One-size-fits-all“-Klinik. 

In gewisser Weise kehren wir damit in eine Zeit zurück, als der Arzt die Patienten noch zu Hause besuchte, bevor das Krankenhaus zum zentralen Anlaufpunkt wurde. Der Unterschied: Heute sind wir dank des technologischen Fortschritts zunehmend in der Lage, eine Reihe von Krankheiten aus der Ferne zu diagnostizieren, zu behandeln und zu überwachen, was eine grundlegende Veränderung der Gesundheitsversorgung mit sich bringt. 

3. Dies wird einen Strukturwandel in der ambulanten Versorgungslandschaft auslösen

Aktuell agieren im neuen Telemedizinmarkt eine Vielzahl von Anbietern mit verschiedenen Produkt- und Serviceansätzen. Nach einer Phase der Sättigung werden wenige, große Anbieter übrigbleiben, die Regeln und Bedingungen diktieren. 

Bei Telemedizinlösungen sprechen wir auch von Plattformen, die typischerweise zwei Arten von Nutzern (hier Patienten und Ärzte) zusammenführen und von einem Anbieter betrieben werden. Diese Anbieter können staatlich oder privat sein. Vorstellbar sind aber auch Krankenkassen und Ärztekammern, die jeweils eine der Nutzergruppen als Mitglieder zählen und so einen strategischen Vorteil besitzen.

Die Telemedizin kann die gesamte Praxislandschaft verändern und neue Geschäftsmodelle schaffen. So könnten digitale Praxen entstehen, die ausschließlich telemedizinische Leistungen anbieten und keinen physischen Standort benötigen – und so theoretisch Versicherte in ganz Deutschland zu ihren Kunden zählen könnten. Bestimmte Aufgaben innerhalb der Praxen können von Softwarelösungen übernommen und als Zusatzleistung durch die Plattformen angeboten werden. Beispiele sind Abrechnungen oder andere administrative Aufgaben von MFA.

Erste Schritte in diese Richtung macht z. B. gerade die Techniker Krankenkasse: Während der Pandemie können alle Versicherten bei Corona-Verdacht per Telefon eine Fernbehandlung erhalten.7 Zusätzlich können auch Rezepte oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ohne Praxisbesuch ausgestellt werden. Langfristig ist es vorstellbar, dass Krankenkassen den ersten Kontaktpunkt der Patienten mit dem Gesundheitswesen übernehmen, auch um sich gegenüber anderen Anbietern am Markt zu positionieren.

4. Telemedizin wird neue Modelle der Gesundheitsversorgung ermöglichen

Wenn Videosprechstunden mit Wearables kombiniert werden, entstehen neue Datenquellen, die helfen, den Gesundheitszustand der Patienten zu verstehen (s. Infokasten). Die Früh­erkennung von Krankheiten könnte sich verbessern, da Symptome und Indikatoren schneller erkannt und mehr Datenpunkte gesammelt werden. So könnten etwa die Herzfrequenz rund um die Uhr überwacht und Unregelmäßigkeiten gemeldet werden. 


Die Kombination von Videokonsultation und Wearables hat das Potenzial, neue Modelle der Gesundheitsversorgung voranzutreiben:

Präventionsmodell

Die Einführung von Diagnose- und Überwachungslösungen für Zuhause wird, unterstützt durch Videokonsultationen, eine neue Art der Zusammenarbeit zwischen Patienten, Ärzten und Kostenträgern ermöglichen. Der Patient wird in der Lage sein, seine Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Anstatt erst zum Arzt zu gehen, wenn er krank ist, könnte er regelmäßige Videokonsultationen mit seinem Arzt durchführen, um seine Gesundheitsdaten zu überprüfen und so Symptome frühzeitig entdecken.  

Ergebnisorientiertes Modell

Im derzeitigen Modell mit sporadischen Arztbesuchen gibt es nicht ausreichend Datenpunkte, um ein ergebnisorientiertes Preismodell zu implementieren. Die Qualität der Daten reicht für die Kostenträger nicht aus, um die Effizienz einer Therapie wirklich nachvollziehen zu können. Eine Videokonsultation in Kombination mit Wearables würde die erforderlichen Daten generieren, um das Modell etablieren zu können. 

Auf dem Weg dorthin müssen jedoch einige Herausforderungen bewältigt werden. Erstens sind die IT-Systeme im Gesundheitswesen noch nicht interoperabel und ermöglichen keine reibungslose Integration von Daten aus verschiedenen Quellen. Zudem gibt es berechtigte Bedenken bezüglich des Datenschutzes im Gesundheitswesen. Um diese auszuräumen, müssen wir zunächst ein dezentrales System schaffen, in dem Patienten jederzeit entscheiden können, ob sie sich ein- oder ausloggen wollen und Eigentümer ihrer Daten bleiben. Dafür müssen wir auch glaubhaft vermitteln, wie Technologie uns als Gesellschaft von Nutzen sein kann. Diese Frage sollte im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen.


3 Tipps zum Einsatz von Telemedizin in der Praxis

  1. Die Erstellung eines Business Cases hilft, den Einfluss von Telemedizin auf die eigene Praxis zu verstehen. Dabei sollten die zu erwartenden Investments (inkl. vorhandener finanzieller Hilfen) dem voraussichtlichen Umsatz und Profit gegenübergestellt werden. Mehrere Szenarien mit unterschiedlichen Anteilen an Telemedizin helfen bei der Entscheidungsfindung.
  2. Es ist wichtig zu verstehen, auf welche Weise Telemedizin die Praxis effizienter macht. Ärzte können schon heute analysieren, wie Zeit gespart werden kann, ob z. B. die Anzahl nicht eingehaltener Termine reduziert werden kann oder mehr Patienten erreicht werden können.
  3. Der Besuch von teils kostenfreien Webinars ist empfehlenswert. Sie informieren über die Implikationen von COVID-19 auf Praxen und zeigen, wie digitale Werkzeuge die Arbeit in der Praxis unterstützen.

 

1 Studie von Civey und TLGG Consulting, assets.ctfassets.net/ublc0iceiwck/2Ixvr7MQMfRNJmvRlNwMEo/ecf9c854cc0f81f2cfe4266a3fa6e719/Digitalisierungsumfrage_TLGG_Civey_Ergebnisse.pdf
2 www.kbv.de/html/1150_45755.php
3 Sermo: www.sermo.com/telemedicine-explodes-in-these-uncertain-times/
4 www.kbv.de/html/1150_44943.php
5 The New York Times: www.nytimes.com/2018/02/25/opinion/hospitals-becoming-obsolete.html
6 Charité – Universitätsmedizin Berlin: www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/fontane_studie_telemedizin_rettet_leben_von_herzpatienten/
7 Techniker Krankenkasse: www.tk.de/presse/themen/digitale-gesundheit/telemedizin/corona-aerztliche-fernbehandlung-2082298

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Thomas Hagemeijer
Consultant bei TLGG Consulting, er beschäftigt sich mit den Gesundheitssystemen der Zukunft.
thomashagemeijer@tlgg.de

Paul Amler
Studierter Volkswirt, er macht Strategieberatung bei TLGG Consulting mit Fokus auf die Gesundheitsbranche.
paulamler@tlgg.de

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