Die venöse Thromboembolie bei hochbetagten und geriatrischen Patienten

C. Ploenes

Die venöse Thromboembolie (VTE) ist eine Erkrankung des Alters. Die Lungenembolie ist in Relation zur Beinvenenthrombose häufiger und weist eine sehr viel schlechtere Prognose auf. Hinweisende Einzelsymptome gehen im Kontext der Komorbidität meist unter; validierte diagnostische Algorithmen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, die Diagnose nicht zu übersehen.


Epidemiologie

Die venöse Thromboembolie ist, ebenso wie die pAVK, im Alter ab 75 Jahren mindestens um den Faktor zehn häufiger als in der Altersgruppe bis zum 40. Lebensjahr. Der Anteil der Lungenembolien steigt im Verhältnis zu demjenigen der Beinvenenthrombosen im Alter deutlich an und ist mit 0,7 % in einer populationsbasierten Studie aus Minnesota rund dreifach häufiger (1). Es handelt sich also um ein Krankheitsbild, mit dessen Auftreten man bei Höherbetagten rechnen muss.

In einer italienischen prospektiven Kohortenstudie mit 3039 konsekutiven Patienten in stationärer Rehabilitation kam es in 2,4 % zu einer klinisch manifesten VTE. Als unabhängige Risikofaktoren wurden eine VTE in der Vorgeschichte sowie das Vorliegen eines Tumorleidens identifiziert. In 0,9 % lag eine Lungenembolie vor, die in knapp der Hälfte der Fälle (0,4 %) tödlich war. Immerhin 75 % aller eingeschlossenen Patienten hatten eine medikamentöse Thromboseprophylaxe erhalten (2).

Bei klinisch führender Lungenembolie ist die 30-Tage-Mortalität im Alter rund zehnmal höher (3-5), außerdem wächst ihr Anteil als VTE-Manifestation (6). Selbst bei einem zunächst durch die Beinvenenthrombose geprägten klinischen Bild ist die Mortalität immer noch doppelt so hoch. Es liegt nahe, dass der Grund dafür in der oft gravierenden, insbesondere kardiopulmonalen, Komorbidität liegt. Eine onkologische Begleiterkrankung verschlechtert nicht nur die Prognose, sondern kann zusätzlich als Auslöser wirken.

Auch das Risiko eines Thromboembolie-Rezidivs scheint bei betagten Patienten signifikant erhöht zu sein (7).

Geriatrische Patienten sind neben einem Lebensalter von >75 Jahren zusätzlich durch ein inzwischen gut definiertes, variabel ausgeprägtes Miteinander von Merkmalen charakterisiert: Immobilität, Sturzneigung und Schwindel, Demenz oder andere kognitive Defizite, Inkontinenz, Dekubitalulzera, Fehl- und Mangelernährung, Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt, Depression und Angststörungen, chronische Schmerzsyndrome, Sensibilitätsstörungen, Seh- und Hörbehinderungen, Medikationsprobleme (Arbeitsgruppe BAG, DGGG, DGG (8)). Das „Frailty- (Gebrechlichkeits-) Syndrom“ fokussiert dabei vor allem auf die klinischen Folgen einer reduzierten Muskelmasse mit herabgesetzter Belastbarkeit. Validierte Tests können derartige Zustände offenlegen und quantifizieren, z.B. der „Timed Up and Go“-Test. Inzwischen belegen Studien, dass das Thromboembolie-Risiko bei Patienten mit pathologischem Testausfall höher ist (9). Die Kombination von Übergewicht und Muskelschwäche geht mit einer erheblich gesteigerten VTE-Wahrscheinlichkeit (OR 14,5) einher (10).


Symptome und Diagnostik

Der Vorhersagewert einzelner mit dem Vorliegen einer VTE assoziierten Symptome, Befunde oder anamnestischer Angaben ist gering, erst recht bei alten, polymorbiden Patienten (11). Die klinische Wahrscheinlichkeit korreliert jedoch mit der steigenden Anzahl hinweisender Indizien, sodass es möglich wird, die Diagnose ohne bildgebende Diagnostik mit großer Verlässlichkeit entweder auszuschließen oder aber die Indikation weiterer abklärender Untersuchungen zu stellen. Dies ist im Alter noch wichtiger, da einzelne Symptome im Kontext der meist kardiovaskulären Begleiterkrankungen „untergehen“ (12). Ein systematisches Abfragen dieser Hinweise, z.B. durch den am weitesten verbreiteten Wells-Score (13) validiert für Beinvenenthrombose und Lungenembolie (Tab. 1 und 2), erlaubt eine größere diagnostische Sicherheit, einen VTE-Verdacht zu erhärten. Kombiniert man umgekehrt einen negativen Wells-Score mit dem gleichsinnig negativen Ausfall eines Laborwert-Indikators (D-Dimere), so ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ohne weitere diagnostische Maßnahmen eine VTE auszuschließen.

Symptom/Beobachtungen

Punkte

aktive Neoplasie

1

Paralyse, Parese oder Immobilisation der verdächtigen Extremität

1

kürzliche Bettruhe >3 Tagen und/oder schwerwiegender chirurgischer Eingriff vor <4 Wochen

1

Schmerzen/Verhärtung entlang der tiefen Beinvenen

1

geschwollene Extremität

1

einseitig geschwollener Unterschenkel (>3 cm im Vergleich zur Gegenseite, Messung 10 cm distal der Tuberositas tibiae)

1

Ödem mit Dellenbildung

1

Vorhandensein von nicht-varikösen oberflächlichen Kollateralvenen

1

frühere, dokumentierte TVT

1

Existenz einer Alternativdiagnose, welche mindestens so wahrscheinlich ist wie die TVT

-2

Score <2: geringe Wahrscheinlichkeit für TVT
Score ≥2: hohe Wahrscheinlichkeit für TVT

Tab. 1: Wells-Score für die tiefe Venenthrombose (TVT) (zweistufig) (13, 23).

Symptom/Beobachtungen

Punkte

vereinfachte Version/
Punkte

klinische Zeichen oder Symptome einer tiefen Beinvenenthrombose

3

1

Es gibt keine andere Diagnose, die wahrscheinlicher ist als eine
Lungenembolie.

3

1

Herzfrequenz über 100/min

1,5

1

Immobilisierung (auch nur wenige Tage) oder chirurgischer Eingriff in den vergangenen vier Wochen

1,5

1

vorherige, gesicherte tiefe Beinvenenthrombose bzw. Lungenembolie

1,5

1

Bluthusten (Hämoptysen)

1

1

Tumorerkrankung (in den letzten sechs Monaten behandelt oder
Tumor-Palliativtherapie)

1

1

Tab. 2: Wells-Score für die Lungenembolie (LE). Beträgt die Addition der Punkte über 4, besteht ein erhöhtes Risiko für eine LE. Bei der vereinfachten Version ist die LE bei ≥2 Punkten wahrscheinlich (13, 23).

Leider ist diese Ausschlusswahrscheinlichkeit im Gegensatz zur Nachweiswahrscheinlichkeit im Alter eingeschränkt, denn die D-Dimere sind mit steigendem Lebensalter per se in über 70 % erhöht (14), wie auch bei gleichzeitigem Vorliegen von Entzündungen, Traumata oder Blutungen, sodass eine negative Vorhersage faktisch unmöglich wird. Ein altersbestimmter Cut-off-Wert ist nicht standardisiert, könnte aber in Kombination mit der klinischen Wahrscheinlichkeit in Zukunft doch weiterführen (15). Bei Verdacht auf Beinvenenthrombose ist die Untersuchung der Wahl die Kompressionssonographie. Sie kann auch bei Verdacht auf eine nicht vital bedrohliche Lungenembolie weiterhelfen. Denn bei Nachweis einer Beinvenenthrombose ist die Therapie identisch. Bei betagten Patienten mit Niereninsuffizienz kann dieses Vorgehen die Durchführung eines Pulmonalis-CTs zum Nachweis einer Lungenembolie und damit die Gabe eines jodhaltigen Kontrastmittels unter Umständen erübrigen.


Prophylaxe

Patienten mit akutinternistischen, -chirurgischen oder -neurologischen Krankheitsbildern profitieren von einer medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe. Dies gilt erst recht aufgrund des gesteigerten Risikoprofils für betagte bzw. geriatrische Patienten: Alte Patienten mit Akuterkrankungen in stationärer Behandlung erleiden häufiger eine venöse Thromboembolie, der Anteil der Lungenembolien ist höher, ebenso die Mortalität (6).

Kompressionsstrümpfe ersetzen die medikamentöse Prophylaxe bei dieser Patientengruppe nicht (16). In der aktuellen S3-Leitlinie „Prophylaxe der venösen Thromboembolie“ (17) gilt ein Lebensalter >60 Jahren per se als dispositioneller Risikofaktor, steigend mit zunehmendem Alter. Erst zusammen mit dem expositionellen Risikofaktor (operativer Eingriff, akute Erkrankung mit Immobilisation) ergibt sich für dieses Patientenkollektiv aber eine klare Indikation für eine medikamentöse Thromboembolieprophylaxe. Denn hier überwiegt der Nutzen das Risiko einer durch die Behandlung provozierten Blutung. Das Blutungsrisiko aber ist ebenfalls eine Funktion des Lebensalters und damit im besonderen Maße zu berücksichtigen.

Das Vorgehen bei geriatrischen Pflegepatienten oder solcher in rehabilitativen Einrichtungen ist nicht in gleicher Weise geklärt. Kleinere Beobachtungsstudien sprechen dafür, dass die Thromboembolie-Prävalenz von Pflegepatienten eine medikamentöse Prophylaxe nicht rechtfertigt (18, 19), eine französische Arbeitsgruppe sieht immerhin weiteren Forschungsbedarf (20).

Therapie

Altersunabhängig ist das Risiko eines Rezidivs in den Monaten nach dem Thromboembolie-Ereignis höher als das Blutungsrisiko (21, 22). Daher ist die Behandlung der Wahl die plasmatische Gerinnungshemmung in therapeutischer Dosierung mit einer Behandlungsdauer in der Regel von drei bis sechs Monaten. Bei isolierter Unterschenkelthrombose (einschließlich Muskelvenen!) reicht eine Dauer von drei Monaten aus. Eine Therapieverlängerung über sechs Monate hinaus (verlängerte Erhaltungstherapie) ist vor allem zu erwägen bei VTE ohne adäquatem Auslöser wie Immobilisierung, bei Rezidiv-VTE nach Absetzen der Antikoagulation, bei aktivem Tumorleiden und bei schwerer Thrombophilie (z.B. Antiphospholipid-Syndrom) (23).

Folgende Substanzklassen sind für die Behandlung zugelassen: Heparin (in der Regel niedermolekular subkutan), Fondaparinux (subkutan applizierbarer Faktor -­Xa-Hemmer), Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon oder Warfarin, seit einigen Jahren auch sogenannte neue orale Antikoagulanzien (NOAK), die besser als direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) bezeichnet werden sollten. Zu dieser Gruppe gehören Faktor-Xa-Hemmer (Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban) und Thrombin-Antagonisten (Dabigatran).

Neben dem lange verbreiteten Therapiestandard einer initialen Heparingabe und der überlappenden, sequenziellen Aufsättigung mit einem VKA ist die primäre oder sequenzielle, nicht überlappende Gabe eines direkten Antikoagulans (DOAK) per os getreten.

Das Komplikationsrisiko einer lebensbedrohlichen Blutung ist im Alter rund um das Dreifache erhöht (24). Dies ist ein weiteres Charakteristikum dieses Patientenkollektivs und ist bei allen therapeutischen Abwägungen zu berücksichtigen.

Die Hauptgründe sind: schlecht medikamentös eingestellter arterieller Hypertonus, Niereninsuffizienz, gleichzeitige Medikation mit nichtsteroidalen Antirheumatika oder Thrombozytenaggregationshemmern (25), schließlich Compliance-Probleme einschließlich der unkontrollierten Einnahme von Medikamenten, die dem behandelnden Arzt nicht bekannt sind. Die Berücksichtigung dieser Punkte vermag das Blutungsrisiko im Alter zu minimieren. Dies gilt für alle zugelassenen Antikoagulantien, auch für DOAKs!


DOAK oder VKA?

Für den Einsatz von DOAKs bei hochbetagten Patienten spricht, dass in den geprüften Standarddosierungen eine Gerinnungskontrolle aufgrund des konstanten Dosis-Wirkungsprofils nicht erforderlich ist. Auch reduzieren sich Interferenzeffekte von Begleitmedikamenten oder Nahrungsmitteln erheblich.

Alle Substanzen sind in randomisierten Studien in der VTE-Therapie geprüft, allerdings entspricht das Studienkollektiv in Alter und Komorbidität nicht demjenigen hochbetagter bzw. geriatrischer Patienten. Eine holländische Arbeitsgruppe analysierte die großen Phase-III-VTE- Zulassungsstudien (EINSTEIN DVT & PE, RE-COVER I u. II, AMPLIFY und HOKUSAI) hinsichtlich hochbetagter und niereninsuffizienter Patienten (26). Es zeigte sich, dass die VTE-Rezidivrate bei Patienten ≥75 Jahren in der Warfarin-Gruppe höher war als in den DOAK-Gruppen. Für niereninsuffiziente Patienten (GFR >30 ml/min) galt dasselbe bei gleichzeitig erhöhtem Blutungsrisiko. Im Ganzen ging die DOAK-Einnahme bei Hochbetagten mit einer verminderten Zahl von Major-Blutungen einher, insbesondere galt dies für Apixaban und Rivaroxaban.

Die Autoren wiesen allerdings deutlich darauf hin, dass die statistische Teststärke für die genannten Patientensubgruppen nicht ausreichend war. Vor allem lagen keine Daten für Hochbetagte mit gleichzeitiger Niereninsuffizienz vor. Dies war etwas anders bei der ebenfalls überprüften Indikation bei absoluter Arrhythmie mit Vorhofflimmern: Hier war die Gesamtzahl von rund 50.000 Studienpatienten um ein Vielfaches höher, außerdem war das untersuchte Kollektiv zumindest hinsichtlich des Durchschnittsalters vergleichbarer. Auch diese Studien, ebenso die bisherigen Resultate von Registerdaten (z.B. Dresdner NOAK-Register), sprechen für die Sicherheit und die Effektivität der DOAKs. Das Blutungsrisiko scheint insgesamt gegenüber Vitamin-K-Antagonisten geringer zu sein. Dies gilt auch für Hirnblutungen.

Bei all den genannten Vorteilen der DOAKs verlangen diese Medikamente allerdings aufgrund ihrer deutlich kürzeren Halbwertszeit eine eher noch höhere Patientencompliance als Vitamin-K-Antagonisten. Denn der DOAK-Antikoagulationsschutz ist an eine lückenlose Einnahme gebunden, diese muss gegebenenfalls kontrolliert werden. DOAKs sind keine Lösung von Compliance- Problemen betagter Patienten. Auch bei initial fehlender Niereninsuffizienz sollte man bei hochbetagten Patienten die Nierenfunktion stets im Auge behalten, parallel die jeweils empfohlenen GFR-Untergrenze der einzelnen DOAK-Wirkstoffe und die für alte Patienten in den jeweiligen Fachinformationen ausgesprochenen Dosisempfehlungen.

Man sollte zudem streng abwägen, ob eine verlängerte Erhaltungstherapie sinnvoll ist. Für diese Fragestellung fehlen bei dieser Patientengruppe belastbare Daten. Als Kriterium mag eine bei Absetzen der Antikoagulation vitale Gefährdung gelten, hier also die Wahrscheinlichkeit einer potentiell tödlichen Lungenembolie. Ist zum Beispiel eine klinisch manifeste Lungenembolie die führende Erstmanifestation, so ist es wahrscheinlich, dass ein VTE-Rezidiv wieder eine Lungenembolie sein wird mit dreifach erhöhtem Ereignisrisiko (22). Bei Verlängerung der Erhaltungstherapie sollte man eine Reduktion der Antikoagulationsdosis erwägen. Geprüft ist ein derartiges Vorgehen für Apixaban und Rivaroxaban (27, 28). Im Resultat widersprüchlich und nicht empfohlen ist eine Reduktion des Ziel-INR unter 2 bei Gabe von
VKA (23).

Eine fibrinolytische Behandlung sollte dem Vorliegen einer vital bedrohlichen Lungenembolie mit Schocksymptomatik vorbehalten bleiben; gerade bei betagten Patienten ist andernfalls das Risiko einer ihrerseits lebensbedrohlichen Blutung viel höher (29).

Dr. med. Christoph Ploenes
Fachzentrum Angiologie
Schön Klinik Düsseldorf SE & Co. KG
Am Heerdter Krankenhaus 2
40549 Düsseldorf
E-Mail: CPloenes@Schoen-Kliniken.de

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