Lebensqualität und Teilhabe (Partizipation) bei jungen Erwachsenen mit Zerebralparese

Junge Menschen mit Behinderungen bilden eine wachsende Bevölkerungsgruppe, die Nachteile in verschiedenen Lebensbereichen erlebt. Eine mangelnde Integration, fehlende Barrierefreiheit sowie stigmatisierende Einstellungen können die gesellschaftliche Inklusion und Teilhabe behindern. Mitte Februar trafen sich ausgewiesene Experten im Rahmen einer internationalen Tagung am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald, um die Chancen auf gute Lebensqualität und Teilhabe von jungen Menschen mit Behinderungen zu diskutieren.

Junge Menschen mit Behinderungen bilden eine wachsende Bevölkerungsgruppe, die im Sinne der UN Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen (UN CRPD) in eine gute Zukunft hinsichtlich ihrer Inklusion in alle Bereiche der Gesellschaft blicken kann. Für das Versprechen auf gute Teilhabe müssen oft Nachteile in verschiedenen Lebensbereichen ausgeglichen werden. Eine mangelnde Integration von Gesundheitsversorgung, sozialer Daseinsfürsorge, Ausbildung und Arbeitswelt können die gesellschaftliche Inklusion und Teilhabe behindern. Fehlende Barrierefreiheit in der Umgebung sowie stigmatisierende Einstellungen verursachen zusätzliche Erschwernisse.

  • Was bedeutet Teilhabe im Konkreten?
  • Welche Indikatoren können verminderte Teilhabe anzeigen?
  • Und welche Rolle spielen Präferenzen der betroffenen Individuen?
  • Welche Auswirkungen haben Behinderungen und eingeschränkte Möglichkeiten der Kommunikation auf die Stärkung der Autonomie im Arzt-Patienten-Kontakt?

Zur Beantwortung dieser Fragen trafen sich ausgewiesene Experten am 15.–16.2.2018 am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg im Rahmen einer internationalen Tagung, um die Chancen auf gute Lebensqualität und Teilhabe von jungen Menschen mit Behinderungen zu diskutieren.

Fortschritt in Theorie und Praxis

Das interdisziplinäre Symposium konnte die Expertise im Bereich der Neuro- und Sozialpädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Rehabilitationsmedizin, Allgemein- und Familienmedizin, Gesundheitspsychologie, Soziologie, Epidemiologie und Medizinethik nutzen, um sowohl in den theoretischen Grundlagen als auch in der praktischen Gestaltung der Versorgung Fortschritte zu erreichen. Ein zentrales Thema war dabei die Diskussion um die Definition des Begriffs Partizipation/Teilhabe und wie sie im individuellen Fall festgestellt werden könnte.
Ein wesentliches Ergebnis der Tagung war die Darstellung von Teilhabe als bi-direktionaler Prozess: Die sozialen Kontextfaktoren ermöglichen oder verhindern Teilhabe, während gleichzeitig eine Teilhabe des betroffenen Individuums die sozialen Kontextfaktoren verändern kann. Voraussetzung dazu ist eine Unterstützung und Befähigung auf der individuellen Ebene.
Im Rahmen der Arzt-Patienten-Beziehung bedeutet dies einerseits, die Selbstbestimmung der Patienten zu fördern, indem gute Problemlösungsstrategien erarbeitet werden. Ärzte können eine Rolle der Anwaltschaft übernehmen, indem sie die Probleme in den Schnittstellen zu anderen Sozialversicherungssystemen erkennen und für Unterstützung sorgen. Präferenzen des Patienten und der Familie, wieviel Anteil an der Entscheidungsfindung sie übernehmen möchten und Vertrauen in die Arzt-Patientenbeziehung, sind ebenso zu berücksichtigen wie die Förderung der Selbstbestimmung. Dieses ist gerade im Übergang zum Erwachsenenalter von hoher Relevanz.

 

    Jorge Schönherr (22 Jahre) nahm bereits an den Studienabschnitten SPARCLE 1 und 2 teil; wir freuen uns, dass wir ihn ebenfalls für die Teilnahme an der TRANS-DISAB Studie gewinnen konnten.

    Die Zerebralparese als Modell

    Am Beispiel der infantilen Zerebralparese (ICP) als Modell für eine Behinderung mit den großen Variationen bezüglich der motorischen Auswirkungen aber auch dem Spektrum der körperlichen, geistigen und seelischen Komorbiditäten konnte aufgezeigt werden, dass die fehlende Verantwortungsgemeinschaft der versorgenden Institutionen über die sozialgesetzlichen Bereiche hinweg selbst eine wesentliche Barriere für Menschen mit Behinderungen in der Teilhabe sein können. Der Ausgleich von Nachteilen kann nicht aus einem System heraus alleine gelingen. Die Verordnung von Physiotherapie ist nicht das geeignete Mittel, die Einschränkungen durch fehlende Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden oder des öffentlichen Nahverkehrs zu überwinden. Die Gewährung einer Rehabilitationsmaßnahme sichert noch nicht nachhaltig die Inklusion in den Arbeitsmarkt. Es bleibt zu hoffen, dass die Kooperationen sich auf dem Hintergrund des Bundesteilhabegesetzes und der noch zu gestaltenden inklusiven Kinder- und Jugendhilfe deutlich verbessern werden.
    Tagungsteilnehmer wiesen auf den hohen Bedarf einer psychosozialen Betreuung, psychotherapeutischen Angeboten und psychiatrischer Mitbetreuung bei Menschen mit Behinderungen hin. Dazu bedarf es bei Fachkräften eines guten Verständnisses der zugrundeliegenden Einschränkungen in der körperlichen, geistigen und seelischen Funktionsfähigkeit, aber auch Kenntnissen in modernen Methoden der Informationsübermittlung, Kommunikation und funktionellen Therapie. Die guten Chancen einer patientenorientierten Mediennutzung und Ausschöpfung digitaler und internetbasierter Möglichkeiten werde aktuell unzureichend genutzt.

    Kinder werden erwachsen

    Während der Phase des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter müssen verschiedene Herausforderungen bewältigt werden: Die neue soziale Rolle als selbstverantwortlicher junger Mensch im Kontakt zu Gleichaltrigen und beginnenden intimen Partnerschaften muss gemeistert werden ebenso wie Überlegungen zu Ausbildung und Erwerbstätigkeit, Wohnmöglichkeiten und Mobilität.
    Gleichzeitig vollzieht sich auch ein Wechsel in den Versorgungssystemen: vom Kinder- und Jugendarzt und Kinder- und Jugendpsychiater zum Allgemeinarzt und Psychiater, vom kinder- und jugendmedizinischen Organspezialisten zum Erwachsenenmediziner. Vertrautes wird getauscht gegen neue Autonomie und fördert die Selbstwirksamkeit.
    Diese Übergänge lassen sich nicht an chronologischen Altersstufen festmachen, sondern bedürfen einer der individuellen Entwicklung angepassten Versorgungskompetenz der behandelnden Ärzte und anderer Gesundheitsfachberufe. Die Herausforderungen sind für alle jungen Menschen mit Behinderungen und chronischen Gesundheitsstörungen besonders schwer zu bewältigen, wenn sie keine Unterstützung erhalten. Diese Unterstützung muss multi­professionell aus Teams erbracht werden, um alle Lebensbereiche berücksichtigen zu können.
    Dass es bei der Schaffung inklusiver Lebenswelten Unterschiede zwischen den Regionen in Europa gibt, konnte bereits die SPARCLE Studie zeigen, die ab 2004 in zwei Wellen eine Kohorte von Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese untersucht hat. Die Studie soll nun fortgeführt werden und die jetzt jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 26 Jahren nachuntersuchen.

    Was ist mit Teilhabe gemeint?
    In dem „sozialen Modell von Behinderung“ der Weltgesundheitsorganisation, bekannt unter dem Namen ICF „International Classification of Functioning, Disability and Health“ wird Behinderung als das Ergebnis der Interaktion/Wechselwirkung von Individuum und Umwelt angesehen und nicht als Merkmal des Einzelnen. Das Modell geht davon aus, dass man Behinderung verringern kann, und zwar durch Veränderung der Umwelt um den betroffenen Menschen und nicht durch Veränderung des Menschen selbst. Partizipation/Teilhabe wird nach der WHO als „Einbezogensein in eine Lebenssituation“ definiert. Obwohl der Begriff in aller Munde ist und die Grundlage für das neue Bundesteilhabegesetz bildet, bleibt unklar, was Indikatoren für eine gute Teilhabe sein können.

    Die aktuelle TRANS-DISAB-Studie (Transition und Disabilities) untersucht die Lebensqualität und Teilhabe von jungen Erwachsenen mit Zerebralparese als exemplarisches Modell für eine Behinderung. Das primäre Ziel ist es, die Faktoren für eine erfolgreiche Transition in die Erwachsenenwelt zu untersuchen.
    Bereits seit 2004 erfolgte in zwei Studienabschnitten eine Untersuchung zur Lebensqualität und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese in mehreren europäischen Ländern, genannt SPARCLE *.
    Es konnte gezeigt werden, dass

    • Kinder und Jugendliche mit Zerebralparese, die über sich selbst berichten können, dieselbe Lebensqualität haben wie andere Kinder ihres Alters.
    • Kinder mit Zerebralparese in der Freizeit und im Alltag an weniger Aktivitäten teilnehmen als andere gleichaltrige Kinder.
    • nur in einigen europäischen Ländern Lebensbedingungen geschaffen wurden, die es Kindern mit Zerebralparese erleichtern, am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben wie andere gleichaltrige Kinder teilzunehmen. Als positives Beispiel zeigten sich die gesellschaftlichen Strukturen in Dänemark; Schleswig-Holstein befand sich im Mittelfeld des Ländervergleichs.

    Aktuell findet an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität zu Lübeck die Fortsetzung von SPARCLE unter dem neuen Namen TRANS-DISAB statt. Neben den ehemaligen Studienteilnehmern von SPARCLE sind auch neue Teilnehmer aus Schleswig-Holstein mit Zerebralparese im Alter von 19 bis 28 Jahren herzlich eingeladen an der Befragung mitzumachen.
    *Study of participation of children with cerebral palsy living in Europe

    Die Untersuchungen werden durch Frau Dr. med. Marion Rapp (Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin) und Heidi Kiecksee (Ergotherapeutin) betreut (Kontakt: 0451-500-43025, Heidi.Kiecksee@uksh.de oder Marion.Rapp@uksh.de). Alle Informationen zur Teilnahme und Ergebnisse zu den bisherigen Studien finden sich auch unter: http://zerebralparese-studie.de/.

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