Wie erkennt der Arzt eine Gefährdung des Kindeswohls?

Würden Sie bei einem drei Monate alten Säugling mit Humerusfraktur eventuell auch eine Kindeswohlgefährdung in Betracht ziehen? Die Diagnostik von Misshandlungsformen ist je nach Alter des Kindes nicht immer eindeutig. Auf welche Anzeichen Kinder- und Jugendärzte bei ihren Patienten achten sollten und wo Ärzte sich Fachberatung einholen können, erklärt Oliver Berthold, Ärztlicher Leiter der Kinderschutzambulanz, DRK Kliniken Berlin und Klinischer Teamleiter Medizinische Kinderschutzhotline.

DefinitionEine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes droht oder bereits vorliegt.

Wenn das Jugendamt Kenntnis von einer Kindeswohlgefährdung erhält, so hat es im Rahmen seines Schutz­auftrags das Gefährdungsrisiko und den Hilfe­bedarf unter Beteiligung verschiedener Fachkräfte abzu­schätzen (§ 8a SGB VIII).

Für Ärzte ist es nicht immer einfach verdächtige Verletzungen oder Verhaltensauffälligkeiten, die auf Kindesmisshandlung hindeuten können, an ihren Patienten zu erkennen. Auffällig ist, dass kaum medizinisches Fachpersonal den Jugendämtern mögliche Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdung meldet. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) melden am häufigsten Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft dem Jugendamt mögliche Fälle von Kindeswohl­gefährdung.

Die Jugendämter haben im Jahr 2016 deutlich mehr Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durchgeführt. Laut Destatis stieg die Zahl der Verfahren 2016 um 5,7 Prozent auf rund 136.900 Verfahren gegenüber 2015 an.1 Kleinkinder sind besonders häufig von Misshandlungen betroffen. Beinahe jedes vierte Kind (23,2 %), für das ein Verfahren durchgeführt wurde, war unter drei Jahre alt. Danach kamen Kinder im Grundschulalter (6 bis 9 Jahre) mit 22,7 Prozent und anschließend drei- bis fünfjährige Kinder mit 19,4 Prozent.


Gründe für die ärztliche Zurückhaltung

Warum machen niedergelassene Ärzte die Jugendämter so selten auf Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdung aufmerksam? Die meisten Ärzte machen dazu keine Angabe (39 %). 26 Prozent der Ärzte sind sich unsicher, wie sie im Verdachtsfall handeln sollen. 25 Prozent sorgen sich darum, wann sie von der Schweigepflicht entbunden werden können (25 %). Zehn Prozent der Ärzte wissen gar nicht, mit wem sie im Verdachtsfall Kontakt aufnehmen können. Ärzte äußerten ebenfalls Unsicherheit im Umgang mit den Eltern des betroffenen Kindes.2


Hotline unterstützt Ärzte bei Gefährdungseinschätzung

Um Ärzten solche Fragen unverbindlich am Telefon zu beantworten, haben die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm gemeinsam mit der Universität Ulm im Juli 2017 die „Medizinische Kinderschutzhotline“ ins Leben gerufen.

Die Hotline richtet sich unter anderem an niedergelassene Ärzte und Kliniker und bietet bei Verdacht auf Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch eine direkt verfügbare, kompetente, praxis­nahe und kollegiale Beratung sowie Fallbesprechung. Erfahrene und geschulte Ärzte und Psychotherapeuten beraten Ärzte zu Fragen bezüglich der sicheren Diagnostik bei Verdachtsfällen, helfen bei der Gefährdungseinschätzung und unterstützen bei der Vorbereitung von Gesprächen mit Behörden und den Angehörigen des Kindes.


Bedarf größer als Nachfrage

Seit der Einrichtung der Hotline für Ärzte im Jahr 2017 seien bislang 400 Beratungsgespräche geführt worden, fasste Berthold zusammen. Davon etwa 130 Gespräche mit niedergelassenen Psychotherapeuten, Pflege­fachkräften und niedergelassenen Ärzten sowie Klinikern. „Der Bedarf an Beratungs­gesprächen ist viel größer, als die eigentliche Nachfrage des medizinischen Fachpersonals“, berichtet Berthold. „In etwa einem Drittel der Fälle empfehlen wir die Kontaktaufnahme zu anderen medizinischen Einrichtungen, das können Kinderschutzambulanzen (in allen Bundesländern), Kinderkliniken mit Kinderschutzgruppen oder rechtsmedizinische Abteilungen sein“, so der Kinderschutz­experte.


Was hilft: Vernetzen Sie sich

Mehr Sicherheit im Umgang mit Kinderschutzfällen gebe eine stärkere Vernetzung der Ärzte untereinander, so Berthold. Erfahrene Ärzte könnten bereits auf bestehende ärztliche Netzwerke zurückgreifen, um sich einen Rat einzuholen. Für einzelne Praxen gestaltet es sich aber oftmals schwieriger Beratungsangebote wahrzunehmen. Berthold rät, sich in ruhigeren Zeiten zu vernetzen, um im Krisenfall auf lokale Netzwerke vor Ort zurückgreifen zu können.
 


Tipps bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung

1. Wie erkenne ich Anzeichen auf Kindesmisshandlung?
Fragen Sie sich bei der vorliegenden Verletzung/Verhaltensauffälligkeit des Kindes:

  • Ist die Anamnese plausibel?
  • Geben sich die Eltern des Kindes unwissend?
  • Haben Sie ein schlechtes Bauchgefühl?
  • Gibt es Fragen, die sich beantworten würden, wenn man an eine Kindesmisshandlung denken würde?

Sehen Sie Tab. 1 für eine schematische Darstellung typischer Verletzungen, die nicht zufällig bei dem Kind aufgetreten sind.

2. Nehmen Sie eine vorläufige Gefährdungseinschätzung vor.

3. Wie soll ich handeln, wenn ein Verdachtsmoment besteht? Bin ich verpflichtet zu handeln?

Als Arzt haben Sie eine Handlungs-, aber keine Meldepflicht.
Wenn die Sicherheit des Kindes gefährdet ist, und Sie mit eigenen Mitteln keine Sicherheit herstellen können, informieren Sie das Jugendamt.

4. Wie spreche ich die Eltern eines Kindes an?

Informieren Sie die Eltern über Ihr Vorgehen, wenn dadurch nicht die Sicherheit des Kindes gefährdet ist.
Machen Sie deutlich, dass die Sorge um die Sicherheit des Kindes im Vordergrund steht. Vermeiden Sie Schuldzuweisungen.

5. Was sind die gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf Schweigepflicht?

„Das Bundeskinderschutzgesetz regelt eine klare Befugnis, im Verdachtsfall Informationen ans Jugendamt weiterzugeben. Ein Arzt macht sich also nicht strafbar, wenn sich ein Verdachtsfall nicht erhärten sollte,“ erklärt Berthold.

6. Wie dokumentiere ich sicher?

„Dokumentieren Sie die Verdachtsfälle idealerweise so, dass ggf. ein Richter nach ein bis zwei Jahren noch nachvollziehen kann, wie Sie zu welchem Zeitpunkt gehandelt haben“, empfiehlt Berthold. Es sollte ebenfalls plausibel dargelegt werden, warum die Schweigepflicht gebrochen wurde. So kann der Arzt auf eventuelle Nachfrage die Dokumentation als Beweis vorlegen.



Amelie Kaufmann

1 Statistisches Bundesamt, www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/10/PD17_350_225.html (Letzter Zugriff am 16.07.2018)
2 www.kinderschutzhotline.de, www.kinderschutz­hotline.de/fileadmin/downloads/Praesentation_Berthold.pdf

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