7 Fragen zur Migräneprophylaxe in Zeiten der CGRP-Antikörper

Migräne ist mit ca. 10 Millionen Betroffenen eine der häufigsten Erkrankungen in Deutschland. Seit November 2018 stehen ein monoklonaler Antikörper gegen den CGRP-Rezeptor (Erenumab) und seit 2019 zwei monoklonale Antikörper gegen CGRP selbst (Galcanezumab und Fremanezumab) zur medikamentösen Prophylaxe der episodischen sowie der chronischen Migräne zur Verfügung. Die Antikörper sowie deren Wirksamkeit und Verträglichkeit stellen wir im Folgenden genauer vor.

1. Was ist CGRP eigentlich und welche Bedeutung hat es bei Migräne?

CGRP ist ein Neuropeptid und kommt in zwei Unterformen vor: α-CGRP und β-CGRP, die ausgehend von zwei Genen (CALCA und CALCB) auf dem Chromosom 11 gebildet werden. Beide Isopeptide bestehen aus 37 Aminosäuren und unterscheiden sich in drei Aminosäuren. Während α-CGRP im peripheren (vor allem im afferenten) und im zentralen Nervensystem (Hirnstamm, Cerebellum, Mittelhirn, Hypothalamus/Hypophyse, Hippocampus, Thalamus, Amygdala) gebildet wird, kommt β-CGRP vor allem im Darmnervensystem vor, in geringen Mengen auch im sensorischen Nervensystem.

Die Bedeutung des Neuropeptids „calcitonin gene-related peptide“ (CGRP) bei Migräne und Clusterkopfschmerz lässt sich auf mehrere Beobachtungen zurückführen: Schon vor Jahren gelang es während Migräneattacken in der V. jugularis, erhöhte Konzentrationen von CGRP nachweisen. Etwas später entdeckte man, dass Patienten mit Migräne auf die Infusion von CGRP mit verzögert auftretenden migräneartigen Kopfschmerzen reagieren. Zuletzt haben sich bei der Behandlung der Migräne monoklonale Antikörper gegen CGRP oder CGRP-Rezeptoren als therapeutisch bzw. prophylaktisch wirksam erwiesen.

2. Wie kam es zur Zulassung der CGRP-Antikörper?

Für alle drei monoklonalen Antikörper wurden die Zulassungsstudien doppelblind und placebokontrolliert durchgeführt. Als primärer Endpunkt wurde für die meisten Studien die Reduktion der Zahl der Migränetage pro Monat gewählt. Die Studiendauer erstreckte sich entweder über drei oder sechs Monate. Ein Maß für die Wirksamkeit ist die 50 %-Responderrate. Diese beschreibt, bei wie vielen Patienten eine mindestens 50%ige Reduktion der Migränetage pro Monat zu beobachten war. Zusätzlich wurden Skalen zur Beurteilung der Beeinträchtigung der Lebensqualität bei Migräne verwendet.

► Hier die Studienergebnisse im Detail:

Zulassungsstudien zu Erenumab

Erenumab

STRIVE: episodische Migräne
(Goadsby PJ, et al. NEJM 2017;377(22):2123-32.)

Patienten

955

Behandlung

monatlich 70 mg oder 140 mg Erenumab oder Placebo s.c.

Dauer

6 Monate

Migränetage initial

8,3 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

bei 70 mg um 3,2 Tage, bei 140 mg um 3,7 Tage, Placebo: 1,6 Tage

50 %-Responderrate

bei 70 mg 43,3 %, bei 140 mg 50 %, Placebo: 26,6 %

ARISE: episodische Migräne
(Dodick DW et al. Cephalalgia 2018;38(06):1026-1037.)

Patienten

577

Behandlung

monatlich 70 mg Erenumab oder Placebo s. c.

Dauer

3 Monate

Migränetage initial

8,2 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

um 2,9 Tage, Placebo: 1,8 Tage

50 %-Responderrate

39,7 %, Placebo: 29,5 %

chronische Migräne
(Tepper S et al. Lancet Neurol 2017;16(06):425-434.)

Patienten

667

Behandlung

monatlich 70 mg oder 140 mg Erenumab oder Placebo s.c.

Dauer

3 Monate

Migränetage initial

17,8–18,4 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

um 6,6 Tage unter 70 und 140 mg Erenumab, Placebo: 4,2 Tage

50 %-Responderrate

bei 70 mg 40 %, bei 140 mg 41 %, Placebo: 23 %

Zulassungsstudien zu Fremanezumab

Fremanezumab

HALO: episodische Migräne
(Dodick DW et al. JAMA 2018;319(19):1999-2008.)

Patienten

875

Behandlung

monatlich 225 mg oder einmalig 675 mg Fremanezumab
oder monatlich Placebo s. c.

Dauer

3 Monate

Migränetage initial

8,9–9,2 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

bei monatlich 225 mg um 4,0 Tage, bei einmalig 675 mg
um 3,9 Tage, Placebo: 2,6 Tage

50 %-Responderrate

bei einmal monatlich 225 mg 47,7 %, bei einmalig 675 mg
44,4 %, Placebo: 27,9 %

HALO-C: chronische Migräne
(Silberstein SD et al. NEJM 2017;377(22):2113-2122.)

Patienten

1.130

Behandlung

monatlich 225 mg nach initial 675 mg oder initial 675 mg Fremanezumab und monatlich Placebo oder nur monatlich Placebo s. c.

Dauer

3 Monate

Migränetage initial

16,0–16,4 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

bei monatlich um 5,3 Tage, bei quartalsweise um 5,2 Tage, Placebo: 3,6 Tage

50 %-Responderrate

bei monatlich 41 %, bei quartalsweise 38 %, Placebo: 18 %

Zulassungsstudien zu Galcanezumab

Galcanezumab

EVOLVE-1: episodische Migräne
(Stauffer VL et al. JAMA Neurol 2018;75(09):1080-1088.)

Patienten

858

Behandlung

monatlich 120 mg oder 240 mg Galcanezumab oder Placebo s. c.

Dauer

6 Monate

Migränetage initial

9,1–9,2 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

bei 120 mg um 4,7 Tage, bei 240 mg um 4,6 Tage, Placebo: 2,8 Tage

50 %-Responderrate

bei 120 mg 62 %, bei 240 mg 61 %, Placebo: 39 %

EVOLVE-2: episodische Migräne
(Skljarevski V et al. Cephalalgia 2018;38(08):1442-1454.)

Patienten

915

Behandlung

monatlich 120 mg oder 240 mg Galcanezumab oder Placebo s. c.

Dauer

6 Monate

Migränetage initial

9,1–9,2 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

bei 120 mg um 4,3 Tage, bei 240 mg um 4,2 Tage, Placebo: 2,3 Tage

50 %-Responderrate

bei 120 mg 59 %, bei 240 mg 52 %, Placebo: 36 %

REGAIN: chronische Migräne 
(Detke HC et al. Neurology 2018;91(24):e2211-e2221.)

Patienten

1.117

Behandlung

monatlich 120 mg nach initial 240 mg oder monatlich 240 mg Galcanezumab oder Placebo s. c.

Dauer

3 Monate

Migränetage initial

19,2–19,6 Tage/Monat

Reduktion der Migränetage

bei 120 mg um 4,8 Tage, bei 240 mg um 4,6 Tage,
Placebo: 2,7 Tage

50 %-Responderrate

bei 120 mg 27,6 %, bei 240 mg 27,5 %, Placebo: 15,4 %

 

3. Wie wirksam sind die CGRP-Antikörper bei Patienten, deren bisherige Migräneprophylaxe unwirksam war?

Die Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper bei Patienten, bei denen die bisherige prophylaktische Therapie versagte, wurde in einer Reihe von Studien untersucht. Bei anderen Studien erfolgten Post-hoc-Analysen.

Die LIBERTY-Studie schloss Patienten ein, bei denen zwei bis vier Klassen präventiver Migränemittel nicht wirksam waren oder nicht vertragen wurden. Die Studie zeigte eine Überlegenheit von Erenumab 140 mg einmal monatlich gegenüber Placebo. Die 50 %-Responderrate betrug mit Erenumab nach drei Monaten 30 % und in der Placebogruppe 14 %. Dies galt auch für Patienten, bei denen eine chronische Migräne und ein Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln bestand.

In der FOCUS-Studie wurden Patienten mit episodischer oder chronischer Migräne rekrutiert, bei denen zwei bis vier Klassen von Medikamenten zur Migräneprophylaxe in den letzten zehn Jahren unwirksam waren. Diese Patienten hatten einen signifikanten Therapieerfolg mit einer einmaligen Gabe von 675 mg Fremanezumab oder der monatlichen Gabe von 225 mg Fremanezumab bei episodischer und 675 mg bei chronischer Migräne. Auch hier ließ sich eine Wirksamkeit für Patienten nachweisen, bei denen ein Kopfschmerz durch Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln bestand.

In den Post-hoc-Analysen der Studien von Galcanezumab ließen sich vergleichbare Therapieeffekte nachweisen.

4. Wie wirkt sich die Prophylaxe auf die Akutmedikation aus?

Der Übergebrauch von Schmerzmitteln ist ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung einer chronischen Migräne. Es konnte bei allen Studien zur episodischen oder chronischen Migräne mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder dessen Rezeptor gezeigt werden, dass durch eine prophylaktische Behandlung die Einnahme von Medikamenten zur Behandlung akuter Migräneattacken reduziert werden konnte.


Reduktion Migränetage = Reduktion der Akutmedikation


5. Kann ich Prophylaxen kombinieren?

Für die meisten der bisher durchgeführten Studien war eine Begleitmedikation mit den etablierten Migräneprophylaktika ausgeschlossen. Eine der Studien mit Fremanezumab erlaubte allerdings auch eine Komedikation mit Migräneprophylaktika. Auch hier zeigte sich eine Überlegenheit von Fremanezumab gegenüber Placebo. Eine Zulassung zur Kombinationstherapie besteht derzeit nicht.

6. Ab wann wirken die CGRP-Antikörper und wie lange sollte die Therapie fortgeführt werden?

Für alle monoklonalen Antikörper zeigte sich ein relativ frühes Einsetzen der Wirkung. Dies unterscheidet die monoklonalen Antikörper von den bisherigen Migräneprophylaktika. Aufgrund des frühen Wirkeintritts kann auch relativ rasch entschieden werden, ob Patienten von der Therapie profitieren oder nicht. Hier sollte allerdings ein mindestens dreimonatiger Behandlungsversuch erfolgen, bevor die Therapie abgebrochen wird.

Die Behandlungsdauer in den randomisierten Studien betrug drei oder sechs Monate. Für alle Substanzen gab es anschließend offene Langzeitbeobachtungen. Für die praktische Anwendung wird empfohlen, dass die Migräneprophylaxe mit einem monoklonalen Antikörper über mindestens drei Monate durchgeführt wird. Nach einem Zeitraum von sechs bis neun Monaten sollte eine Therapiepause erfolgen, um zu evaluieren, ob die Häufigkeit und Schwere der Attacken eine Fortführung der Prophylaxe erfordert.

7. Wie steht es um die Verträglichkeit und Sicherheit?

Ein besonderer Vorteil der monoklonalen Antikörper ist ihr gutes Verträglichkeitsprofil. Die seltenen Nebenwirkungen waren in den Studien lokale Schmerzen, Juckreiz, Anaphylaxie und Reaktionen an der Einstichstelle. Weiterhin wurden gelegentliche Nasopharyngitiden und anderer Infektionen der oberen Atemwege beobachtet. Erenumab kann zu Obstipation führen. Die amerikanische Zulassungbehörde (FDA) weist darauf hin, dass in den Vereinigten Staaten einige Fälle von schwerer Obstipation beobachtet wurden, zum Teil mit der Notwendigkeit eines operativen Eingriffs bei Erenumab. Daher müssen Patienten auf diese potenzielle Nebenwirkung hingewiesen werden. Zentrale Nebenwirkungen wurden bei den monoklonalen Antikörpern nicht beobachtet.

In den randomisierten Studien wurden Patienten mit akuten oder schweren kardiovaskulären Erkrankungen sowie Autoimmunerkrankungen von der Teilnahme ausgeschlossen. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Patienten im Alter unter 18 Jahren und über 60 Jahren.

CGRP ist ein wichtiger und potenter Vasodilatator. Daher sollten, bis auf weiteres, Patienten mit schwerwiegenden kardiovaskulären Erkrankungen oder einem hohen Risiko für ein vaskuläres Ereignis nicht behandelt werden (Patienten mit koronarer Herzerkrankung, ischämischem Insult, TIA, Subarachnoidalblutung, einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit und einem M. Raynaud). Ebenso ist bei Patienten mit einer COPD, pulmonaler Hypertonie oder entzündlichen Darmerkrankung Vorsicht geboten. Monoklonale Antikörper gegen CGRP oder dessen Rezeptor dürfen darüber hinaus nicht in der Schwangerschaft oder Stillzeit angewendet werden. Grundsätzlich sollten Frauen im gebärfähigen Alter auf eine sichere Kontrazeption achten.

FazitDie monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-­Rezeptor stellen einen Durchbruch in der Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne dar. Erstmalig handelt es sich um eine an der Pathophysiologie der Erkrankung orientierte Therapie, die zum einen sehr gut vertragen wird und durch die parenterale Gabe eine hohe Compliance aufweist. Negativ wirken sich die hohen Behandlungskosten aus, die zu einer Einschränkung der Therapie führen und die neuen Substanzen nur bei Patienten genutzt werden, bei denen alle bisherigen medikamentösen Therapien versagt haben, nicht vertragen wurden oder kontraindiziert waren.

David Lewis
Niedergelassener Facharzt für Neurologie, Stuttgart
Kopfschmerzexperte der DMKG
www.lewis-neurologie.de

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