Unterstützt Schach die Abstinenz bei Suchterkrankungen?

Schach kann mehr als ein interessanter Zeitvertreib sein und therapeutisch eingesetzt werden. Ob ein ergänzendes schachbasiertes kognitives Training bei der Behandlung von Suchterkrankungen hilfreich ist, wird aktuell untersucht.

Veränderung kognitiver Funktionsbereiche bei Abhängigkeits­erkrankungen

  • überaktives impulsives System
  • abgeschwächtes reflektives System
  • verminderte kognitive Kontrolle, dadurch
    • risikofreudiges Verhalten
    •  „unkontrollierter” erhöhter  Substanzkonsum
  • erhöhte Sensitivität gegenüber sofortigen Belohnungen
  • Beeinträchtigung der Entscheidungsfindung
  • Defizite in Aufmerksamkeit und visuoräumlichen Fähigkeiten
  • Beeinträchtigung der Exekutiv-Funktionen wie
    • Problemlösen
    • mentale Flexibiliät
    • Beurteilungsfähigkeit
    • Arbeitsgedächtnis

Hauptmerkmale von Substanzabhängigkeiten wie bei Alkohol und Tabak sind fehlangepasste Muster des Konsums und wiederkehrende und erhebliche negative Folgen im Zusammenhang mit dem Konsum. Suchterkrankungen sind von chronischem Verlauf und von Rückfällen gekennzeichnet. Neben dem Zwang zum Substanzkonsum besteht Kontrollverlust über den Konsum. Anfänglich spielen bei der Motivation zum Konsum angenehme Effekte durch die Substanz eine Rolle. In späteren Stadien der Entwicklung einer Abhängigkeit wird konsumiert, um einer Entzugssymptomatik entgegenzuwirken. Wird eine Substanz nach einer Zeit der Abstinenz wieder konsumiert, spricht man von einem Rückfall. Kommt es bei Abhängigen zu einem Rückfall in die alten Verhaltensmuster, spricht man von einem schweren Rückfall.


Neurobiologie der Substanzabhängigkeit

In Modellen zu Abhängigkeitserkrankungen wird von einer Dysbalance zwischen zwei distinkten, aber interagierenden neuronalen Systemen ausgegangen, die essentiell für die Entscheidungsfindung sind:

  • Das impulsive System ist für die Ankündigung von sofortiger Belohnung zuständig und beinhaltet Regionen wie die Amygdala und das Striatum (bestehend aus Putamen und Nucleus Caudatus).
  • Das reflektive System signalisiert längerfristige Konsequenzen des Handelns und besteht aus dem ventromedialen prä­frontalen Kortex (ventromedial prefrontal cortex, VMPC), dem dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC), dem anterioren Zingulum, der Insula und dem Hippocampus.

Bei Abhängigen führt ein überaktives impulsives System dazu, dass das reflektive System nicht in notwendigem Maße kognitive Kontrolle über den Substanzkonsum leisten kann. Es werden sofortige Belohnungen, also beispielsweise die angenehmen Effekte durch Substanzkonsum, gegenüber längerfristigen Belohnungen, in diesem Falle die gesundheitlichen Vorteile durch Abstinenz, bevorzugt. Eine gestörte inhibitorische Kontrolle führt außerdem zu risikofreudigem Verhalten. Neben diesen Beeinträchtigungen zeigen sich bei Abhängigen auch Alterationen anderer Exekutiv-Funktionen wie dem Problemlösen, der mentalen Flexibiliät, der Beurteilungsfähigkeit und des Arbeitsgedächtnisses (siehe Kasten).


Die bei Abhängigkeitserkrankungen beeinträchtigten Funktionsbereiche und neuronalen Netzwerke überlappen stark mit denen, die durch schachbasiertes kognitives Training oder Schachspielen gefördert werden können. Insbesondere eine Stärkung von Regionen der kortikalen Kontrolle kann präventiv für einen Rückfall sein.


 


Kognitive Remediations-Therapie

„Kognitive Remediation” (Cognitive remediation therapy, CRT) ist ein psychotherapeutischer Ansatz, dessen Ziel die Verbesserung kognitiver Beeinträchtigungen ist. Das kog­nitive Training umfasst Funktionsbereiche wie Exekutiv-Funktionen (Inhibition, Entscheidungsfindung, kognitive Flexibilität und Arbeitsgedächtnis) sowie Aufmerksamkeit. Synonyme für Kognitive Remediations-Therapie sind kognitive „Enhancement”-Therapie und kognitive Rehabilitation.

Bei psychischen Erkrankungen ist die generelle Verbesserung der Kognition ein unmittelbares Therapieziel, was sich positiv auf den Alltag und ein besseres soziales Funktionsniveau auswirkt. Ein mittelbares Therapieziel ist die Verbesserung der Wirksamkeit anderer psychotherapeutischer Interventionen, die ein Mindestmaß an kognitiven Fähigkeiten erfordern. So führt eine bessere Kognition beispielsweise zu einem verbesserten Lernen und Anwenden von Bewältigungsstrategien („Coping-Skills”). Die kognitive Verhaltenstherapie ist für Patienten mit stärkerer kognitiver Beeinträchtigung weniger geeignet. Denn sie erfordert ein hohes Maß an kognitiver Belastung. Außerdem muss der Patient in der Lage sein, die Anweisungen des Therapeuten zu verstehen, sich zu merken und in schwierigen Situationen anzuwenden. Es konnte gezeigt werden, dass die Exekutiv-Funktionen die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie beeinflussen.

Kognitives Training zielt auf Verbesserung in den Funktionsbereichen Exekutiv-Funktionen und Aufmerksamkeit ab. Neben genereller Verbesserung der Kognition sind die Therapieziele die Anhebung des sozialen Funktionsniveaus und die Verbesserung der Wirksamkeit anderer psychotherapeutischer Interventionen. So beeinflussen Exekutiv-Funktionen nachgewiesenermaßen die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie.

Epidemiologie und Symptome von Alkohol- und Tabakabhängigkeit

Schädlicher Gebrauch von Alkohol ist laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit für 5,9 % aller Todesfälle verantwortlich. Außerdem spielt er bei mehr als 200 Erkrankungen und Verletzungs­arten eine große Rolle als Krankheitsursache. In der Altersgruppe der 20 – 39-Jährigen sind beispiels­weise etwa 25 % aller Todesfälle durch Alkohol bedingt. Neben diesen gesundheitlichen Konsequenzen ist schädlicher Gebrauch von Alkohol auch für bedeutsamen sozialen und ökonomischen Verlust verantwortlich, sowohl für Individuen, als auch für die Gesellschaft.

Tabakabhängigkeit ist weltweit trotz zahlreicher Aufklärungskampagnen ebenfalls eine Volkskrankheit. Anfang der 2000er Jahre – vor Inkrafttreten des Rahmenübereinkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs im Jahr 2005 – waren in der Europäischen Region der WHO über 16 % aller Todesfälle unter Erwachsenen im Alter von über 30 Jahren auf Tabak zurückzuführen. Der globale Durchschnitt liegt bei 12 %, davon in den Regionen Afrika und Östlicher Mittelmeerraum 3 bzw. 7 %. Die negativen Folgen von Tabakkonsum und Passivrauchen beinhalten über die gesamte Lebenspanne Folgeschäden wie Fötus-Schädigungen, plötzlichen Kindstod, Atemwegserkrankungen und besonders ab einem Lebensalter über 30 Jahren Herz-Kreislauf-­Erkrankungen und später Krebserkankungen.

 


Kognitives Training bei Abhängigkeitserkrankungen

Bei Schizophrenie und Ess-Störungen hat sich CRT als Zusatz-Therapie bereits in zahlreichen Studien als wirksam erwiesen. In ersten Studien bei Suchterkrankungen wurde gezeigt, dass CRT die Funktionsbereiche der geteilten Aufmerksamkeit, Erkennung von Warnsignalen, Arbeitsgedächtnis und episodisches Gedächtnis verbessert. Außerdem konnten in diesen Studien durch CRT auch nicht-kognitive Bereiche wie Selbstwertgefühl und Wohlbefinden verbessert sowie das Alkoholverlangen reduziert werden. Vor allen Dingen eine Verbesserung der Arbeitsgedächtnisleistung und der Inhibitions-Fähigkeiten wirkt sich positiv auf das Trinkverhalten aus, indem diese impliziten Prozesse, die mit Trinkverhalten assoziiert sind, beeinflusst werden.


Schach bei ADHS und Schizophrenie

Erste Studien zeigten, dass klassisches Schachtraining als Zusatz-Therapie bei der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und bei Schizophrenie wirksam ist. So kommt es bei der ADHS zu einer Abnahme der Krankheitsschwere und zu verbesserten Konzentrationsfähigkeiten. Kognitive Defizite wie beispielsweise Beeinträchtigungen von Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Lernen und Problemlösung sowie Kapazität und Planungsfähigkeiten konnten bei schizophrenen Patienten verbessert werden.


Schach und das menschliche Gehirn

Beim Schachspielen sind zahlreiche kognitive Funktionsbereiche wie Aufmerksamkeit, perzeptuelle Gruppierung, diverse Gedächtnisfunktionen, Problemlösen und Exekutiv-Funktionen involviert. Schachspieler zeigen im Vergleich zu Nicht-Schachspielern eine bessere Leistung in Planungsaufgaben. Schachspielende Kinder zeigen ebenfalls bessere kognitive Kapazitäten, vor allem beim Planen und Problemlösen, sind weniger anfällig für Ablenkungen und haben eine bessere Aufmerksamkeit. Des Weiteren wirkt sich Schach bei Kindern positiv auf die soziopersonelle Entwicklung aus. Bei Gesunden gibt es einige Studien mit bildgebenden Verfahren, welche die Hirnnetzwerke untersucht haben, die beim Schachspielen aktiviert werden und durch regelmäßiges Spielen verändert werden können. Dabei zeigen sich der DLPFC, prämotorische Hirnareale sowie parietale und okzipitale Regionen als relevant. Die Studienlage deutet also darauf hin, dass vor allem das reflektive System beim Schachspielen aktiv ist. Zum impulsiven System gibt es lediglich eine Studie, welche Veränderungen im Nucleus Caudatus durch regelmäßiges Schachspielen nachweisen konnte.


Schach bei Abhängigkeitserkrankungen

Zur Wirksamkeit von Schachtraining auf Kognition und Therapieerfolg bei Abhängigkeitserkrankungen gibt es lediglich eine Studie bei Kokain-­Abhängigen. Als Zusatz-Therapie wurde sogenanntes motivationales Schach eingesetzt, eine Kombination aus motivierender Gesprächsführung und Schachtraining. Es zeigte sich eine Verbesserung in diversen Aufmerksamkeitsdomänen und Exekutivfunktionen. Schach verbesserte vor allem das Arbeitsgedächtnis, auch im Vergleich zur Kontrollgruppe, die Ergotherapie erhielt.

 

„Das schach­basierte kognitive Training ist gerade für suchtabhängige Patienten interessant, da vermutlich genau die Gehirn­bereiche gestärkt werden, die bei Abhängigkeits­erkrankungen stark beeinträchtigt sind“, 
sagt Prof. Vollstädt-Klein.


Relevanz für Therapieerfolg

Eine gute Kognition ist die Voraussetzung, Interventionen und Angebote des Therapeuten zu verstehen und umzusetzen. Problemlösestrategien können besser erlernt und im Alltag angewandt werden. Beim Versuch, abstinent zu bleiben, ist es hilfreich, in schwierigen Situationen flexibel zu reagieren und Situationen beurteilen zu können. Ebenso unterstützen ein gutes Inhibitionsvermögen und Kompetenzen bei der Entscheidungsfindung die Abstinenz.

Weitere positive Wirkungen von Schach

  • Strukturierung der Freizeit
  • Belohnung als Alternative zur Belohnung durch Substanzkonsum
  • Stärkung des Selbstvertrauens
  • Stress-Abbau
  • Soziale Integration
  • Verringerung sozialer
    Ängstlichkeit


Therapeutisches Schach

Das sogenannte therapeutische Schach wurde von dem spanischen Psychologen Juan Antonio Montero (Club de Ajedrez Magic Extremadura https://ajedrezmagic.es/cursos-sociales-y-terapeuticos/) vor mehr als 10 Jahren entwickelt. Therapeutisches Schach ist ein schachbasiertes kognitives Training, das in einer Gruppentherapie angewendet wird und sich vom klassischen Schachspiel unterscheidet. Es wird mit einem Demo-Brett gearbeitet, auf dem Schachpositionen zu sehen sind. Die Teilnehmenden müssen keine guten Schachspieler sein. Sie lernen aber im Laufe des Trainings mehr über das Spiel. Montero und Kollegen wenden die Intervention nicht nur bei Abhängigen an, sondern auch in der Arbeit mit Flüchtlingen, Gefängnisinsassen und bei an ADHS oder Autismus Erkrankten.

In zwei gerade angelaufenen, von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft geförderten Studien, untersucht die Autorin, ob ergänzendes therapeutisches Schach bei der Behandlung von Alkoholabhängigen und Rauchern in der frühen Abstinenzphase den Therapieerfolg verbessert. In den beiden Projekten, die auch auf die Identifikation neurobiologischer Korrelate abzielen, wird weltweit erstmalig therapeutisches Schach wissenschaftlich untersucht.


Ausblick

Schach oder schachbasiertes kognitives Training als Zusatz-Therapie kann bei abhängigen Personen vermutlich vor allem das reflektive System stärken. Auf neuronaler Ebene sind damit verbunden insbesondere Verbesserungen in Regionen der kortikalen Kontrolle und Entscheidungsfindung. Gerade diese kognitiven Domänen und Hirnnetzwerke sind bei Abhängigkeitserkrankungen verändert und höchst relevant für den Therapieerfolg.

Sollte sich Schach in zwei laufenden Studien mit Rauchern und Alkoholabhängigen tatsächlich als wirksamkeitsverbessernde Zusatz-Therapie herausstellen, wäre diese unkompliziert in der klinischen Praxis einzusetzen. Schach kann auch ambulant von Patienten zu Hause gespielt werden und bietet eine sinnvolle Möglichkeit der Freizeitgestaltung als Alternative zum Substanzkonsum.

►Sabine Vollstädt-Klein ist Gründungsmitglied und Vorsitzende der Standardkommission der International Society for Applied Chess (ISAC), welche die Anwendung von Schach zum Beispiel in der Forschung, in sozialen Bereichen oder bei therapeutischen Interventionen unterstützt.

Prof. (apl.) Dr. Sabine  Vollstädt-Klein
Arbeitsgruppe „Neuroimaging  abhängigen Verhaltens“
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
D-68159 Mannheim
s.vollstaedt-klein@zi-mannheim.de
www.zi-mannheim.de

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