Der Blasenschrittmacher: Sakrale Neuromodulation bei Blasendysfunktionen

Die sakrale Neuromodulation mithilfe eines Blasenschrittmachers (Beckenbodenschrittmachers) ist in der Urologie und Urogynäkologie zur Therapie der Überaktiven Blase (OAB) und bei nicht obstruktiver Harnretention seit Jahren etabliert. Auch im proktologischen Bereich kommt sie bei der Therapie der Stuhlinkontinenz zum Einsatz. Hilfreich ist diese Therapieform vor allem auch bei gleichzeitigem Auftreten der oben genannten Symptome.

Die OAB ist dabei die häufigste Indikation. Sie ist nach der International Continence Society definiert als:


„Harndrang mit oder ohne Inkontinenz, gewöhnlich in Verbindung mit erhöhter Miktionsfrequenz und Nykturie, ohne pathologische oder metabolische Faktoren, die die Symptome erklären“.1


Ursächlich liegen hier meist eine vermehrte sensorische Wahrnehmung und eine gestörte zentrale Hemmung der Impulse, die von der Blase an das Gehirn geleitet werden, zugrunde. Zudem scheint es analog zum Magen-Darm-Trakt auch in der Harnblase autonome Schrittmacherzellen zu geben, die zu einer Tonisierung der Blase beitragen. Eine fehlende zentrale Hemmung kann somit zu sogenannten autonomen Detrusorkontraktionen führen. Klinisch gehen diese Kontraktionen mit plötzlichem, nicht zu kontrollierendem Urinverlust einher. Die OAB ist eine die Lebensqualität der Betroffenen sehr stark einschränkende Erkrankung.


Stufenkonzept

Nach Ausschluss anderer Ursachen und damit Diagnostik der idiopathischen OAB wird zur Therapie meist ein Stufenkonzept empfohlen, wobei zunächst konservative Maßnahmen, wie Beckenbodentraining und Verhaltenstherapie zum Einsatz kommen. Im Folgenden werden häufig Anticholinergika oder Betamimetika zur medikamentösen Therapie verordnet. Bei unzureichender Wirksamkeit, Kontraindikationen oder Unverträglichkeiten sind im Weiteren minimal-invasive, operative Verfahren etabliert. Hierzu zählt die Injektion von 100 IE Botulinum­toxin in den Detrusor vesicae oder die Sakrale Neuromodulation.

Die Wirkung von Botulinumtoxin hält dabei etwa 9–12 Monate. Eine der häufigsten Nebenwirkungen ist die Harnretention. Daher stellt das Vorliegen einer Blasenentleerungsstörung eine Kontraindikation bei diesem Verfahren dar. Gerade in dieser Situation – einer Kombination aus OAB und Blasen­entleerungsstörung – ist der Einsatz der Sakralen Neuromodulation oft vielversprechend. Auch eine Harnretention die ohne die Symptome einer OAB vorliegt und nicht durch eine Obstruktion verursacht ist, liegt im Indikationsspektrum des Blasenschrittmachers. Hierzu zählt vor allem die sogenannte funktionell bedingte Harnretention (z.B. Detrusor-Blasenhals-Dyssynergien). Aber auch bei neurogen oder myogen bedingter Harnretention (z.B. durch Multiple Sklerose) oder dem Fowler-Syndrom kann die Sakrale Neuromodulation eingesetzt werden.


Wirkmechanismus

Der Wirkmechanismus der Sakralen Neuromodulation beruht im Wesentlichen auf einer Modulation der afferenten, aber auch der efferenten Impulsweiterleitung auf spinaler und supraspinaler Ebene.2 Letztendlich werden die Nervenfasern des Sakralnervenplexus, sympathische und parasympatische Nervenfasern aus dem Plexus hypogastricus inferior und die präganglionären parasymphathischen Motoneurone des Sakralmarks, sowie die somatosensorischen Fasern des Nervus pudendus in ihrer Interaktion moduliert. In entsprechende PET-Studien konnte diese zentrale Wirkung in Gehirnarealen nachgewiesen werden, welche für Lernverhalten, Aufmerksamkeit und Miktion verantwortlich sind.3


Risiken und Komplikationen

Wird die Indikation zur Sakralen Neuromodulation gestellt, muss der Patient über folgende Risiken und Komplikationen aufgeklärt werden. Da es sich um ein minimal-invasives und sehr standardisiertes Verfahren handelt, sind die Komplikationsraten gering. Dennoch muss der Patient wissen, dass es zu Missempfindungen und Schmerzen, zu Hämatomen oder auch einer Infektion kommen kann. Auch ein Verrutschen der Elektrode mit Wirkverlust oder Schmerzen ist möglich.

Ebenso ist das aktuell verfügbare System nicht MRT-tauglich, so dass eine MRT-Untersuchung nach Implantation nur noch im Bereich des Kopfes möglich ist. Gerade bei Patienten mit Multipler Sklerose, die häufig von einem Schrittmacher profitieren könnten, die jedoch auch oft regelmäßige MRT-Untersuchungen der neuronalen Achse benötigen, muss dies bei der Indikationsstellung beachtet werden. Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren MRT-taugliche Elektroden auf den Markt kommen werden, um dieses Problem zu umgehen.


Implantation

Die Implantation eines Beckenbodenschrittmachers ist in aller Regel ein zweistufiges Verfahren. Zunächst werden im Rahmen der Testphase nur Elektroden implantiert, die an einen externen Neurostimulator angeschlossen werden. Die Implantation erfolgt dabei bei isolierter OAB meist einseitig. Liegt eine Kombination aus Harnretention und OAB vor, kann eine beidseitige Implantation der Elektroden sinnvoll sein. Die Elektroden werden je nach Ansprechen und Indikation in der Regel in die Sakralforamina S2 oder S3 platziert. Um eine korrekte Lage zu erreichen, wird der Eingriff unter Röntgenkontrolle durchgeführt. Ebenso wird bereits intraoperativ eine elektrische Stimulation der Nerven über die Elektrode vorgenommen, um eine entsprechende Antwort bei korrekter Lage der Elektrode an einer Kontraktion des Musculus sphinkter ani zu beobachten.

Während der meist 2–4-wöchigen Testphase wird die Wirksamkeit der Sakralen Neuromodulation individuell in Zusammenarbeit von Arzt und Patient getestet. Hierbei ist es sinnvoll bereits vor der Implantation, aber auch insbesondere danach ein Symptomtagebuch zu führen. Ergibt sich in dieser Testphase eine mindestens 50 %ige Verbesserung der Symptome und ist der Patient subjektiv zufrieden, erfolgt in einem zweiten Eingriff die Implantation des permanenten Schrittmachers ins subkutane Fettgewebe. Sollte in der Testphase der gewünschte Therapieerfolg ausbleiben, wird in der zweiten Operation die Elektrode operativ wieder entfernt. Beide Eingriffe werden im stationären Setting durchgeführt. In der Testphase sind regelmäßige ambulante Besuche notwendig. Zum einen können über den externen Schrittmacher verschiedene, bei der Testimplantation programmierte Einstellungen eingestellt werden um eine maximale Wirksamkeit zu erreichen und der Patient kann im Umgang mit dem System geschult werden. Zum anderen sind regelmäßige Wundkontrollen erforderlich, da eine Infektion des nach außen ausgeleiteten Drahtes unbedingt frühzeitig erkannt werden sollte.

Die Nachsorge besteht dann aus weiteren regelmäßigen Besuchen, um die Funktion des Schrittmachers zu kontrollieren und beispielsweise die weiter zu erwartende Batterielaufzeit zu überprüfen. Ja nach Beanspruchung kann eine Batterie bis zu acht Jahre funktionsfähig sein. Danach muss der Schrittmacher erneut operativ ausgetauscht werden.


Wirksamkeit

Die Wirksamkeit der Sakralen Neuromodulation konnte inzwischen in zahlreichen klinischen Studien belegt werden. In einer Follow-Up Untersuchung von über 250 Patienten im Rahmen der Insite Studie konnte nach drei Jahren eine über die Zeit persistierende 80 %ige Verbesserung der symptombedingten Beeinträchtigung im Alltag verzeichnet werden.4 Im Vergleich zu der Behandlung mit 200 IE Botulinumtoxin zeigte eine randomisierte Studie ähnlich gute Wirksamkeiten auf die Symptome der OAB, wobei hier nach sechs Monaten die Verbesserungen in der Patientengruppe, die Botulinumtoxin erhalten hatten, etwas überlegen waren. Beide Verfahren gingen insgesamt mit einer geringen Komplikationsrate einher. Bei der Behandlung mit Botulinumtoxin kam es wie zu erwarten häufiger zu einer Harnretention und Blaseninfekten, in der Gruppe der Sakralen Neuromodulation mussten in 3 % der Fälle die Elektroden aufgrund von Komplikationen entfernt werden.5


Individuelle Patientenauswahl

Kontinenz- und Beckenbodenzentrum Ulm
Das zertifizierte, interdisziplinäre Kontinenz- und Beckenbodenzentrum bietet moderne Untersuchungsmethoden und ein breites Spektrum an Behandlungsverfahren. Diese reichen von der Akupunktur der Reizblase bis hin zu modernsten Operationsverfahren bei Inkontinenz und Senkungsbeschwerden. Es besteht eine langjährige enge Zusammenarbeit der Gynäkologie, der Urologie und der Chirurgie. Unterstützt wird das Zentrum durch spezialisierte Physiotherapeuten sowie weitere Fachdisziplinen des Universitätsklinikums.
www.uniklinik-ulm.de

Insgesamt sollte bei der Auswahl des Verfahrens die individuelle Situation des Patienten die zentralste Rolle spielen. Gerade Komorbiditäten erschweren häufig ein zweistufig-operatives Verfahren mit Narkose, auch eine ausgeprägte Adipositas oder eingeschränkte Beweglichkeit der Patienten stellen relative Kontraindikationen für den Blasenschrittmacher dar. Andererseits hält die Wirkung des Botulinumtoxin zumeist nur 9–12 Monate, so dass hier wiederholte Applikationen erforderlich sind. Zu beachten ist auch, dass nach der möglicherweise auch erfolglosen Behandlung mit Botulinumtoxin ein einjähriges Intervall eingehalten werden muss, bevor die Sakrale Neuromodulation versucht werden kann. Dies liegt an der Refraktärität des Detrusors, der eine gute Beurteilung der Wirksamkeit des Schrittmachers nicht ausreichend zulässt.


Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sakrale Neuromodulation im Rahmen des Stufenkonzeptes der Therapie der OAB und bei der Therapie der nicht-obstruktiv bedingten Harnretention einen festen Stellenwert einnimmt. Wenn es sich auch um ein initial aufwändiges Verfahren handelt, sind die Zufriedenheitsraten der Patienten vor allem auch im Langzeitverlauf sehr gut. Dennoch sollte bei der Indikationsstellung und Aufklärung der Patienten mit der nötigen Sorgfalt vorgegangen werden, um Komplikationen und eine erhöhte Rate an Therapieversagern in der Testphase zu vermeiden.

Deutschlandweit wird die Sakrale Neuromodulation in vielen urologischen und urogynäkologischen Kontinenzzentren angeboten, so dass es sich lohnt, Patienten mit den entsprechenden Symptomen zur Diagnostik und Therapie hier vorzustellen.


1 Abrams P et al., Neurourol Urodyn. 2002;21(2):167–78.
2 Leng WW et al., Urol Clin North Am. 2005 Feb;32(1):11–8.
3 Blok BF et al., BJU Int. 2006 Dec;98(6):1238–43.
4 Siegel S et al., Urology. 2016 Aug;94:57–63
5 Amundsen CL et al., JAMA. 2016 Oct 4;316(13):1366–1374

Dr. Miriam Elisabeth Deniz

Interdisziplinäres Beckenbodenzentrum
Universitätsfrauenklinik Ulm
Miriam.deniz@uniklinik-ulm.de

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