Schwere Psychosen mit seltenen Ursachen

Einer jungen Frau entgleitet ihr Leben: Aggressionen, Gedächtnislücken, Wahnzustände. Zunächst die ­Diagnose: Schizophrenie. Am Universitätsklinikum Freiburg finden die Ärzte den wahren Grund: eine immuno­logische Enzephalopathie.

Fallbeispiel – Entzündliche Prozesse als Ursache

Es klingt wie ein Wirklichkeit gewordener Horrorfilm: Eigentlich hatte Saskia R.* ihr Leben im Griff. Die etwa 30-jährige Frau arbeitete erfolgreich im Management eines Unternehmens. Doch innerhalb weniger Wochen entgleitet ihr alles. Ihre Stimmung schwankt plötzlich ungewohnt stark, sie reagiert impulsiv und zunehmend aggressiver. Zwei Monate nach Beginn der Veränderungen erleidet sie den ersten epileptischen Anfall ihres Lebens. Eine Leidensgeschichte beginnt, die mehr als eineinhalb Jahre anhält und die Patientin in verschiedenste neurologische und psychiatrische Kliniken führt. Der mehrfach gestellte und bestätigte Befund: Schizophrenie. Doch die Therapie mit antipsychotischen Medikamenten wirkt nicht lange. „Die Psychosen kehrten zurück und wurden so stark, dass die junge Frau alleine kaum noch essen, trinken und sich um sich selbst kümmern konnte. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie zu uns in die Klinik überwiesen“, sagt Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst, Universitätsklinikum Freiburg. Hier prüfen die Ärzte noch einmal alle möglichen Ursachen, unter anderem eine Entzündung des Gehirns.

Fehlgesteuertes Immunsystem ­verantwortlich

In umfangreichen Laboruntersuchungen stellen die Freiburger Forscher bei der Patientin eine Störung der Blut-Hirn-Schranke fest, wodurch Stoffe unkontrolliert ins Gehirn gelangen können. Außerdem finden die Ärzte im Blut spezielle Immunantikörper, die im Gehirn eine Andockstelle des Botenstoffs NMDA blockieren. Eine aufwändige bildgebende Stoffwechseluntersuchung des Gehirns bringt schließlich den Nachweis: Teile des Gehirns sind entzündet. Die neue Diagnose: NMDA-Rezeptor-Enzephalitis.

Therapie wirkt innerhalb von Wochen

Die Freiburger Ärzte setzen eine hoch­dosierte Kortisontherapie und weitere Immun­therapien an, um die Entzündung des Gehirns zurückzudrängen. „Wir konnten schon nach wenigen Tagen eine deutliche Besserung sehen“, sagt Tebartz van Elst. Nach einigen Wochen kann die Therapie reduziert werden und Saskia R. nach Hause entlassen werden. Schließlich kann die Patientin ihr normales Leben wieder aufnehmen.

 

In den letzten Jahren wurden neue neuropsychiatrische Entdeckungen auf dem Gebiet der Schizophrenie gemacht. Diese zeigen, dass schizophreniforme Syndrome in Einzelfällen auf neuropsychiatrische Erkrankungen zurückzuführen sind. Oft wird bei diesen Patienten die eigentliche Ursache übersehen und es wird eine Schizophrenie fehldiagnostiziert. Ein Beispiel hierfür sind schizo­pheniforme Syndrome als Ausdruck entzündlicher Prozesse im limbischen System (siehe Fallbeispiel oben). „Die Idee, dass Entzündungen des Gehirns Schizophrenien verursachen können, gibt es schon seit den 1930er-Jahren. Aber erst Anfang der 2000er-Jahre gab es die ersten Nachweise, dass dem wirklich so ist“, sagt Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Wie häufig schizophrene Symptome auf eine Entzündung des Gehirns zurückzuführen sind, ist schwierig zu beziffern. Die Diagnostik wird bislang nur an wenigen Kliniken routinemäßig durchgeführt und ist sehr komplex. „Es besteht hier ein großer klinischer Forschungsbedarf“, sagt Tebartz van Elst.


Klassifikation nach Antigenen

Die Ursache entzündlicher Gehirn­erkrankungen, die schizophrene oder andere psychiatrisch auffällige Symp­tome hervorrufen, lässt sich nicht immer eindeutig klären. In einigen Fällen geht der Wesensveränderung eine Krebserkrankung voraus, in deren Folge das Immunsystem Strukturen angreift, die es im Tumor und im Gehirn gibt. In diesem Fall spricht man von einem paraneoplastischen Syndrom.

Pathophysiologisch wird unterschieden zwischen Antikörpern gegen intrazelluläre synaptische/onkoneuronale Antigene oder Antikörpern gegen neuronale Zelloberflächen­antigene. Zu letzteren zählt die häufigste und bekannteste Form einer immunologischen Enzephalopathie: die NMDA-Rezeptor-Enzephalitis. Hier blockieren Immunantikörper im Gehirn eine Andockstelle des Botenstoffs NMDA (weitere Beispiele siehe Kasten).


Psychiatrische Symptome

Die Symptome bei einer immunologischen Enzephalopathie sind unspezifisch und es werden zwei Phänotypen unterschieden: der neuropsychiatrische und der primär-klassisch psychiatrische Phänotyp.

Beim neuropsychiatrischen Phänotyp stehen folgende Symptome im Vordergrund: Halluzinationen, Wahn, formale Denkstörungen, Bewusstseinsstörungen, motorische (katatone) Symptome wie Bewegungsstarre oder Bewegungsstörungen wie Dystonien oder Dyskinesien (Zuckungen oder bizarre steife Bewegungen), Anfälle oder Gefühlsstörungen. „Der Verlauf ist meist akut-subakut, d. h. sich rasch über Wochen entwickelnd. Klassisches Beispiel ist eine NMDA-­Rezeptor-Enzephalitis wie am Beispiel von Saskia R. beschrieben“, so der Experte.Beim primär-psychiatrischen Phänotyp können klinisch, d. h. aufgrund von Symptomatik und Verlauf, keine fundamentalen Unterschiede zu klassischen Depressionen, Schizophrenien oder Demenzen erkannt werden. „Das macht die Sache besonders schwierig. Das bedeutet aber auch, dass entsprechende Ursachen prinzipiell erwogen werden sollten. Psychiatrie ist halt Medizin!“, sagt Tebartz van Elst und ergänzt: „Klinisch am eindrücklichsten sind die Hashimoto-­Enzephalopathien, weil sie oft mit einem primär-psychiatrischen Phänotyp einhergehen. Deshalb ist die Überraschung um so größer, wenn dann plötzlich eine Immuntherapie hilft“, so Tebartz van Elst.


Immunologische Enzephalopathien in der Psychiatrie1

Psychiatrische Erkrankungen, insbesondere dysexekutive (komplexe kognitive Symptome), schizophreniforme, affektive und demenzielle Störungsbilder, können durch auto­immun-entzündliche Hirnerkrankungen ausgelöst werden. Bisher wurden solche sogenannten immunologischen Enzephalopathien primär als neurologische Erkrankungen angesehen, da sie oft mit neurologischen Symptomen wie epileptischen Anfällen, kognitiven Problemen, Halbseitenlähmung etc. einhergehen. Zunehmend finden sich in Fallbeschreibungen aber auch Hinweise darauf, dass typische psychiatrische Krankheitsbilder resultieren können.

Pathophysiologisch wird unterschieden zwischen Antikörpern gegen

  • neuronale Zelloberflächenantigene (z. B. NMDA-, AMPA-, GABA-Rezeptor, VGKC-Komplex),

  • intrazelluläre synaptische/onkoneuronale Antigene (z. B. GAD, Yo, Hu)

  • oder Schilddrüsenautoantikörper (Thyroidperoxidase-Ak etc.). Bei Patienten mit Hashimoto-Thyreoditis, psychiatrischer Erkrankung und klinischem Ansprechen auf Steroide sprechen wir von einer Steroid-responsiven Enzephalopathie bei Autoimmunthyreoiditis (SREAT).

Die Erkennung von immunologischen Enzephalopathien ist bedeutsam, da potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen vorliegen, oftmals eine Tumorassoziation besteht und potenziell heilende immunsuppressive Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.



Wie erkenne ich die Beteiligung einer Entzündung?

Wann sollte an eine immunologische Enzephalopathie gedacht werden?1

• Bei sehr kurzer Entwicklung einer dysexekutiven, psychotischen, depressiven oder demenziellen Symptomatik.

• Bei atypischer klinischer Repräsentation.

• Bei zusätzlichen Symptomen wie Bewegungsstörungen, Myoklonien oder epileptischen Anfällen.

• Bei auffälliger Basisdiagnostik (MRT, EEG, Liquor, Hyponatriämie, positiven Schilddrüsenantikörpern, Autoantikörpern im Serum/ Liquor etc.)

Folgende relevante medizinische Fragen können helfen, mög­liche organische Ursachen psychischer Störungen zu erkennen:


Gab es...

  • Geburtskomplikationen?
  • entzündliche Gehirnerkrankungen in der Vorgeschichte (Meningitiden, Encephalitiden)?
  • Fieberkrämpfe?
  • Schädel-Hirn-Traumata?
  • andere relevante Infekte oder fieberhafte Ereignisse vor Ausbruch der psychischen Symptomatik?

Gibt es...

  • Systemerkrankungen immuno­logischer oder rheumatologischer Natur (Rheuma, Lupus erythematodes, Gelenkentzündungen, Muskelschmerzen, Psoriasis, M. Crohn, Colitis ulcerosa, …)?
  • internistisch relevante Begleit­erkrankungen (Koliken, roter Urin etc.)?
  • seltsame Hauterkrankungen?

Im Anschluss sollte bei Verdacht eine organische Basisdiagnostik veranlasst werden, um Klarheit über die Differenzial­diagnose zu schaffen: MR-Bildgebung des Gehirns, EEG-Untersuchung, Laboruntersuchungen und Untersuchung des Liquor.


Gesamtkonzept der ­Schizophrenie in Frage gestellt

Wie das Beispiel der immunologischen Enzephalopathie zeigt ist die Schizophrenie eine Gruppe psychischer Erkrankungen mit zahlreichen Symptomen. Häufig wird die Schi­zophrenie jedoch nach wie vor als eine einheitliche Krankheit betrachtet. „Das ist nicht mehr zeitgemäß“, sagt Tebartz van Elst. Doch worüber sich Experten zunehmend verständigen, dem wird in der diagnostischen Praxis noch viel zu wenig Rechnung getragen, mahnt der Experte an – mit gravierenden Folgen für die Behandlung von Patienten wie man am Beispiel von Saskia R. sieht. „Ich plädiere daher dringend für eine Reform des Schizophrenie-Konzepts“, fordert der Wissenschaftler.

Mit seiner Forderung rüttelt ­Tebartz van Elst an einem Jahrzehnte alten Dogma der Schizophreniediagnostik. „Wir kennen zahlreiche verschiedene Ursachen für Krankheiten, die wir als Schizophrenie bezeichnen. Anders ausgedrückt: Schizophrenie ist ein Sammelbegriff für viele verschiedene Krankheiten.“

Die Diagnose der Schizophrenie erfolgt üblicherweise nach dem Klassifikationsschema des Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association (APA) und der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Daraus resultieren jedoch zwei Schwierigkeiten. Schizophrenie wird nach wie vor wie eine einzige Erkrankung betrachtet. „Die Diagnose richtet sich zudem überwiegend nach äußeren, psychopathologischen Symptomen. Die ebenso relevanten, neurophysiologischen Ursachen bleiben indes häufig außen vor“, erläutert Tebartz van Elst.

Das kann nach Meinung des Mediziners zu fatalen Fehldiagnosen und schwerwiegenden Behandlungsfehlern führen, weil aufwändigere, klinische Untersuchungen wie zum Beispiel bildgebende Methoden, Gehirnwasseranalysen oder immunologische Parameter zur Diagnose physiologischer Ursachen nicht oder erst sehr spät erfolgen. Aber auch die Forschung wird behindert, wenn am bisherigen Schi­zophrenie-Begriff festgehalten wird, ist Tebartz van Elst überzeugt.

„Ich möchte daher nicht nur zur Diskussion stellen, den Begriff der Schizophrenie abzuschaffen, wie es Japan zum Beispiel bereits 2002 getan hat, sondern auch das Konzept dahinter zu erneuern“, sagt Tebartz van Elst.

Gerade hat er seine Thesen in dem Buch „Vom Anfang und Ende der Schizophrenie – Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizo­phrenie-Konzept“ veröffentlicht (siehe Buchtipp).

Bisher gibt es nur Einzelfallbeschreibungen über autoimmun vermittelte Hirnentzündungen mit psychiatrischen Erkrankungsverläufen. In einem aktuellen Forschungsprojekt erstellen Forscher am Universitätsklinikum Freiburg deshalb gerade eine erste anonymisierte, deutschlandweite Datenbank über immunologische Enzephalopathien mit rein psychiatrischen Verläufen. Für die Studienteilnahme suchen sie erwachsene Patienten mit vorherrschend psychiatrischer Symptomatik und Nachweis von Autoantikörpern gegen neuronale Zelloberflächenantigene oder intrazelluläre onkoneuronale Antigene oder mit nicht anders erklärbaren Liquorpatho­logien. Ansprechpartner: Funktionsoberarzt PD Dr. D. Endres; Tel.: 0761-270-66350, E-Mail: dominique.endres@uniklinik-freiburg.de


1 www.uniklinik-freiburg.de/psych/ambulanzen/immunologische-enzephalopathien.html
* Name geändert

Dr. Daniela Busse

Quelle: Universitätsklinikum Freiburg

Buchtipp

Vom Anfang und Ende der Schizophrenie

Die Schizophrenie gehört zu den dramatischsten Diagnosen der Medizin der Neuzeit. Sie fungiert nicht nur als Bezeichnung für eine Gruppe psychischer Symptome, sondern hat darüber hinaus weitreichende gesellschaftliche Implikationen. Kaum eine andere Diagnose der Medizin wird so sehr gefürchtet und von Betroffenen wie Angehörigen als Makel, Stigmatisierung und Omen einer umfassenden gesellschaftlichen Abwertung und Ausgrenzung erlebt. In diesem Buch werden Symptome, Klassifikation, Geschichte, Ursachen und Therapie der Schizophrenie umfassend beschrieben. Darauf aufbauend wird begründet, wieso auf der Grund­lage neuester neuropsychiatrischer Erkenntnisse nach Überzeugung des Autors die Schizophrenie in 100 Jahren Geschichte sein wird.


Ludger Tebartz van Elst, Vom Anfang und Ende der Schizophrenie – Eine neuro­psychiatrische Perspektive auf das Schizophrenie-Konzept, 35,00 Euro, 254 Seiten, ISBN: 978-3-17-031258-6, Kohlhammer Verlag

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