Gebärden – interessant auch in der ärztlichen Praxis

In Deutschland leben etwa 80.000 Gehörlose Personen. Gebärdensprache ist daher auch für die ärztliche Praxis von Interesse. Eine Übersicht inkl. Interview mit Gebärdensprachtrainer Heiko Burak.

Gebärden – interessant auch in der ärztlichen Praxis

Gehörlosigkeit wird aus medizinischer Sicht über den Grad des Hörverlustes definiert: Gehörlos ist, wer im Bereich zwischen 125 und 250 Hz einen Hörverlust von mehr als 60 dB sowie im übrigen Frequenzbereich von mehr als 100 dB hat. Eine hochgradige Schwerhörigkeit liegt vor, wenn der mittlere Hörverlust zwischen 70 und 100 dB beträgt. Bei Hörverlusten zwischen 85 und 100 dB spricht man auch von „Resthörigkeit“ oder „an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit“.1

Die Gehörlosengemeinschaft, als deren Interessensverband der Gehörlosenbund gesehen werden kann, sieht Gehörlosigkeit nicht ausschließlich über fehlendes Hörvermögen definiert, sondern als eine Definition sprachlicher und kultureller Ausrichtung: Gehörlose sind demnach Hörbehinderte, die vorzugsweise in Gebärdensprache kommunizieren und sich der Gebärdensprachgemeinschaft und ihrer reichen Kultur zugehörig fühlen.1

Die Zahl der Gehörlosen wird in Deutschland auf etwa 80.000 Personen geschätzt. Darüber hinaus gibt es rund 16 Millionen Schwerhörige.2 Circa 140.000 davon haben einen Grad der Behinderung von mehr als 70 % und sind auf Gebärdensprache bzw. auf Gebärdensprach-Dolmetscher angewiesen.

Ursachen

ICD-10-Codes für „Taub“
H90, H91 (z. B. Presbyakusis H91.1), H83 (z. B. Lärmschädigungen des Innenohres H83.3)

Die Ursachen für Gehörlosigkeit sind vielfältig. Ihr können entweder eine Schall-Leitungsstörung, eine Schall-Empfindungsstörung oder eine psychogene Hörstörung zugrunde liegen. In rund 15 % ist die Gehörlosigkeit ererbt, dann zumeist durch genetisch bedingte Fehlbildungen des Innenohres oder des Gehirns. Vorgeburtlich kann eine Infektion der Mutter (z. B. Röteln oder Toxoplasmose) oder Medikamentenschädigung den Gehörverlust des Kindes verursachen.

Zu den ototoxisch wirkenden Substanzen gehören Alkohol und Nikotin, aber auch Thalidomid und verschiedene Antibiotika (Aminoglykoside, Makrolide und Glykopeptide). Sauerstoffmangel während der Geburt oder mechanische Geburtstraumen (z. B. mit Hirnblutungen) können Gehörlosigkeit verursachen.

Gründe für einen späteren Hörverlust sind häufig Meningitiden oder Enzephalitiden, Schädelbrüche bzw. Traumata, Virus-Infektionen (wie Mumps oder Masern), chronische Mittelohrentzündungen oder Tumore, Lärm-Schäden, Durchblutungsstörungen, Hörsturz oder Otosklerose. Nicht immer kann die Ursache der Gehörlosigkeit eindeutig diagnostiziert werden.

Tipp:

Viele Volkshochschulen oder Gehörlosenvereine bieten Gebärdensprachkurse an. Einen sehr interessanten Film über Gehörlosigkeit und Gebärdensprache finden Sie hier.


Keine Pantomime

Mit Hörgeräten oder einem Cochlea-Implantat (CI) können Hörgeschädigte oder Gehörlose meistens nur einen Teil der Geräusche und Sprache erkennen und verstehen. In der Regel kann damit kein umfassendes Hörvermögen und Sprachverständnis, wie Hörende es kennen, erzielt werden. Für bestimmte Warn- oder Klingeltöne gibt es Signalanlagen, die akustische Geräusche in Licht- oder Vibrationssignale umwandeln. Verlässliche Übersetzer für Sprache in die Schriftform (z. B. zur Anwendung auf dem Mobilfon) gibt es zur Nutzung für Gehörlose derzeit noch nicht.

Daher empfiehlt der Deutsche Gehörlosen-Bund e. V., dass auch Hörgeräte- und CI-Nutzende frühzeitig mit allen kommunikativen Möglichkeiten unter gleichberechtigter Verwendung der Gebärdensprache im Sinne einer totalen Kommunikation gefördert werden.

Gebärdensprache ist keine Pantomime sondern ein visuelles Sprachsystem mit eigener Grammatik. Sie ist auch nicht international gültig, sondern es gibt viele nationale Unterschiede.

„Taub“ versus „taubstumm”

Der Begriff „taubstumm“ ist veraltet und wird von vielen gehörlosen Menschen als abwertend und diskriminierend empfunden. Daher werden die Bezeichnungen „gehörlos“ oder „taub“ verwendet. Bezeichnungen wie Surditas oder Anakusis bleiben der medizinischen Nomenklatur vorbehalten.

Interview

mit Heiko Burak. Er hat sich darauf spezialisiert, Menschen innerhalb von drei Monaten die Gebärdensprache beizubringen. Durch das individuelle Online-Training lässt sich die Gebärdensprache gut neben dem Privat- und Praxisalltag erlernen. Dadurch wird es möglich, mit der Gebärdensprache Gespräche zu führen und den Praxisablauf flüssiger zu gestalten.

Herr Burak, eine weit verbreitete Annahme ist definitiv falsch: Gebärdensprache ist keine Pantomime und nicht universell, sprich international einheitlich. Wie kann man die Struktur der Gebärdensprache erklären und was bedeutet sie für die von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit Betroffenen?

Heiko Burak: Das ist richtig. Die Gebärdensprache geht über Pantomime und das Reden mit Händen und Füßen hinaus. Genauso wie die Lautsprachen haben sich Gebärdensprachen in jedem Land unterschiedlich entwickelt. Deswegen gibt es zum Beispiel im deutschsprachigen Raum die Deutsche Gebärdensprache, die Österreichische und die Deutschschweizer Gebärdensprache.

Das Gleiche gilt im englischsprachigen Raum, wo die Amerikanische Gebärdensprache historisch bedingt mehr Ähnlichkeiten mit der Französischen statt mit der Britischen Gebärdensprache hat.

Die Struktur der Gebärdensprach-Grammatik orientiert sich komplett an den visuellen tatsächlichen oder gedanklich vorgestellten Gegebenheiten. Aus diesem Grund gibt es zum Beispiel kein „der, die, das“ und auch keine klassische Konjugation der Verben. Durch die visuelle Sichtweise verändert sich zum Beispiel die Gebärde für Laufen, je nachdem, ob man vorwärts, rückwärts oder hochläuft.

Wie kann man Gebärdensprache erlernen und wie schnell kann man sich darin ggf. verständigen? Muss der Aufwand riesig sein?

Heiko Burak: Die Gebärdensprache lernt man am besten genauso, wie jede andere Fremdsprache auch. Zu beachten ist, dass wir von den Schulen auf eine bestimmte Art des Fremdsprachenlernens geprägt wurden. Dieser Weg ist nicht unbedingt für jeden Menschen die beste Art und Weise, eine Sprache zu lernen.

Unsere Erfahrung ist, dass man die Gebärden­sprache sehr gut in ca. 3 Monaten so lernen kann, dass man sich dann auch darin unterhalten kann.

Wichtig hierbei ist, dass das Lernen mit einem vielbeschäftigten Alltag gut vereinbar gemacht wird und die Vorteile der Gebärdensprache beim Lernen gezielt genutzt werden. Zum Beispiel gibt es zahlreiche Wörter, die jeder Mensch spontan machen und verstehen kann. Zum Beispiel kann jedes Kind die Gebärde für Essen, Trinken, Haus und Brille zeigen. Wenn man weißt, dass diese intuitiven Wörter ca. 1/3 der Gebärdensprache ausmachen, dann kann man das gezielt beim Sprachen lernen nutzen. Damit ist der Aufwand, die Gebärdensprache zu lernen, bedeutend geringer als in anderen Fremdsprachen.

Ärztinnen und Ärzte kommen häufig in Kontakt mit gehörlosen oder schwerhörigen Patientinnen und Patienten. Bei komplexen Themen kann der rein akustische oder schriftliche Kontakt zeitaufwendig, schwierig und anstrengend werden. Was kann Gebärdensprache dort leisten?

Heiko Burak: Grundsätzlich werden Gebärdensprachdolmetscher in Deutschland bei Arztbesuchen von den Krankenkassen bezahlt. Theoretisch lässt sich somit der zeitaufwendige und anstrengende Kontakt vermeiden. Insbesondere lassen sich so auch eventuelle Missverständnisse, die nicht immer aufgedeckt werden, vermeiden. In der Praxis gibt es leider noch zu wenig Gebärdensprachdolmetscher, sodass vor allem bei kurzfristigen medizinischen Notfällen kein Dolmetscher verfügbar ist.

Wenn keine Gebärdensprachkenntnisse vorhanden sind, dann sind alle beteiligten auf den schriftlichen Kontakt oder auf die Kommunikation mit Händen und Füßen angewiesen. Wie schon erwähnt ist diese Art der Kommunikation sehr zeitaufwendig und auch mit Ungenauigkeiten behaftet. Die Grundlagen der Gebärdensprache ermöglichen es, in diesen Situationen mit den gehörlosen Patienten zu kommunizieren und auf einer persönlichen Ebene Ängste zu nehmen.

Vielen Dank für Ihre Zeit.

Unter diesem Interview befindet sich ein kurzes Video von Heiko Burak, in dem er zehn wichtige Gebärden im medizinischen Bereich aufzeigt.

Mehr Info zu Heiko Burak und seiner Arbeit finden sie hier.

 

Literatur:
1 www.gehoerlosen-bund.de
2 Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes

Quelle: Deutscher Gehörlosen-Bund e. V.

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