Die Reform wird selbst zum Notfall

Wenn die Notfallreform wie im aktuellen „Diskussionsentwurf“ des Bundesgesundheits­ministeriums (BMG) geplant auch Realität wird, verlieren die KVen den Sicherstellungsauftrag nachts und an den Wochenenden an die Länder. Die Folgen für die Gesundheitsversorgung wären drastisch.

Ein Gedankenexperiment: Die Notfallreform wird beschlossen, die Länder erhalten den Sicherstellungsauftrag zu den sprechstundenfreien Zeiten. Die über 170.000 Vertragsärzte und -psychotherapeuten sind nur noch während der normalen Praxisöffnungszeiten von 8 bis 18 Uhr für die Versorgung zuständig. Die KV-Pflicht zum Bereitschaftsdienst ist passé – ganz zur Freude vieler Niedergelassener.
Die Länder müssen nun eigene Ärzte beschäftigen, um die Versorgung nachts und an Wochenenden sicherzustellen. Diese zu finden, während Praxen und Kliniken, aber auch der öffentliche Gesundheitsdienst händeringend nach Ärzten suchen, stellt sich als weder einfach noch billig heraus.

Angesichts dieser Probleme versuchen einzelne Länder, die Ärzteschaft zum Bereitschaftsdienst zwangszuverpflichten – und verstoßen damit gegen die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Berufsausübung. Das ruft massive Streiks hervor, die das Ausmaß der Ärzteproteste 2012 weit in den Schatten stellen. Musterklagen werden eingereicht.

Andere Länder bedienen sich eines juristischen Kniffes und übertragen den Sicherstellungsauftrag sofort weiter auf die KVen. Das Problem: Aufgrund der Normen­hierarchie dürfen sie zwar Aufgaben an Landesbehörden delegieren, nicht aber an Körperschaften des Bundes. Die KBV und der GKV-Spitzenverband können also keine Aufgaben im Bereich der Sicherstellung mehr übernehmen.

Das gesamte Regelwerk des Bereitschaftsdienstes muss auf Landesebene neu erstellt werden. Und weil die Länder sich nicht einigen können, heißt das: 16 eigenständige Regelungen. Mit den Krankenkassen schließen die Länder entsprechende Verträge zur Versorgung ab und müssen damit auch Rechenschaft über das Abrechnungsverhalten der vom Land angestellten Ärzte ablegen.

Auch für die integrierten Notfallzentren (INZ) muss ein neues Konzept entwickelt werden. Die KVen können weder Ärzte für die INZ organisieren, noch gibt es einen Grund, sich finanziell am Betrieb zu beteiligen. Monate gehen ins Land.

Ein eigenständiger Versorgungssektor entsteht – und damit eine neue Sektorengrenze. Vertragsärzte können Versicherte in den sprechstundenfreien Zeiten nicht mehr behandeln, ohne mit diesem neuen System in Konflikt zu kommen. Die Praxen sind gezwungen, spätestens um 18 Uhr zu schließen. Die 116 117 wird auf die Rufnummer der Terminservicestelle reduziert. Das 2019 in Kraft getretene Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) wird schon bald in großen Teilen wirkungslos.

Viele Fragezeichen

Noch sind das Zukunftsvisionen. Die Pläne des BMG sind noch nicht in Stein gemeißelt. KBV und KVen haben sich vor wenigen Wochen noch einmal deutlich zum Sicherstellungsauftrag bekannt. Berufspolitische Verbände wie der NAV-Virchow-Bund warnen eindringlich vor den juristischen, administrativen und organisatorischen Konsequenzen des Gesetzesvorhabens, das statt höherwertiger, schnellerer und günstigerer ambulanter Versorgung vor allem Chaos bringt.

Eine systematische Weiterentwicklung der bestehenden Strukturen wäre aus Sicht der Patienten, Ärzte und Praxisteams sehr viel sinnvoller. Der Verband der niedergelassenen Ärzte hat bereits konkrete Vorschläge gemacht, wie das gelingen kann.

Die zentralen Punkte:

• Die Rufnummern 116117 und 112 digital vernetzen und mit einem bundesweit einheitlich strukturierten Ersteinschätzungsverfahren koppeln. Das entlastet Krankenhäuser und bietet für Patienten spürbaren Mehrwert durch besseren Service und höhere Qualität. Finanziert wird die Struktur durch die GKV.
• Bestehende Kooperationen von Notfallpraxen mit Krankenhäusern ausbauen zu INZ mit einer vertragsärztlichen Notfallambulanz und einem klinischen Notfallbereich an ausgewählten Standorten
• Notfallmedizin-Zentren bilden für eine abgestimmte Versorgung mit hohen Qualitätsstandards
• Versorgung zu den sprechstundenfreien Zeiten in der Breite aufrechterhalten
• Ambulante Vergütungssystematik reformieren mit bedarfsgerechten Vorhalte- und Aufwands­pauschalen (extrabudgetäre Vergütung)

„Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es eingebracht worden ist“, hat der SPD-Politiker Peter Struck den legislativen Prozess einst beschrieben. Einmal mehr ist nun die ärztliche Selbstverwaltung gefragt, diese Entwicklung so mitzugestalten, dass am Ende tatsächlich die notwendige Reform steht – und kein neuer Notfall.

 

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Adrian Zagler

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