Welche Themen bestimmen den gesundheitspolitischen Diskurs?

Am 15. Mai 2022 wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Wir blicken zurück auf die gesundheitspolitische Agenda der auslaufenden Legislaturperiode und nehmen die Wahlprogramme zur NRW-Landtagswahl unter die Lupe.

Derzeit regieren CDU und FDP in NRW mit einer hauchdünnen Mehrheit von nur einem Sitz. In der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa vom 16. März 2022 zeichnet sich ab, dass das bestehende Regierungsbündnis zukünftig keine Mehrheit mehr erreichen wird.Umso spannender ist ein Blick auf die Wahlprogramme der Parteien, die eine realistische Chance auf eine Regierungsbeteiligung haben. Welche gesundheitspolitischen Schwerpunkte werden gesetzt? Wo existieren inhaltliche Schnittmengen und wo zeichnen sich Weichenstellungen für die zukünftige Ausgestaltung der (ambulanten) Gesundheitsversorgung ab?

NRW-Gesundheitspolitik von 2017–2022

Das beherrschende Thema der aktuellen Legislaturperiode war die Bewältigung der Corona-Pandemie. Das Pandemie- und Krisenmanagement hat die inhaltlichen Debatten im Landtag, aber auch die Agenda der Landesregierung in den letzten zwei Jahren wesentlich geprägt. Die Beschaffung von Schutzmaterial, die Unterstützung der Kommunen bei der Kontaktpersonennachverfolgung, die Entwicklung und ständige Anpassung einer Teststrategie, die Beschaffung und Verteilung von Impfstoff und die Steuerung der Impfkampa-gne sind nur einige zu nennende Themen.

Neben dem Pandemiemanagement gab es weitere wichtige gesundheitspolitische Themen auf der Agenda der schwarz-gelben Landesregierung. So wurde in den vergangenen fünf Jahren eine Reihe von Maßnahmen initiiert, um einem zukünftigen Hausärztemangel entgegenzuwirken. Hierzu zählt die Schaffung von rund 300 Studienplätzen an der neu gegründeten Medizinischen Fakultät Ostwestfalen-Lippe in Bielefeld, deren Curriculum einen Schwerpunkt in der Allgemeinmedizin vorsieht. Zusätzlich zur Schaffung der neuen Studienmöglichkeit in Bielefeld wurde die Zahl der humanmedizinischen Studienplätze an der Universität Witten/Herdecke verdoppelt. Flankierend zu diesen Maßnahmen hat die Landesregierung die sogenannte Landarztquote eingeführt: Seit dem Wintersemester 2019/2020 werden in NRW 7,8 Prozent aller Studienplätze der Humanmedizin unter der Voraussetzung vergeben, anschließend eine hausärztliche Tätigkeit in einer unterversorgten Region auszuüben. Dies entspricht etwa 180 Studienplätzen pro Jahr.

Auch die Aus- und Weiterbildung der nicht ärztlichen Gesundheitsberufe war ein zentrales Thema der gesundheitspolitischen Diskussionen. NRW hat bereits im Jahr 2010 begonnen, Modellstudiengänge zur Erprobung der Akademisierung der Pflege- und Gesundheitsberufe zu etablieren. Die aktuelle Landesregierung hat diesen Weg fortgeführt und das Studienangebot in den Modellstudiengängen Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie ausgebaut. Darüber hinaus wurden die Umsetzung der regelhaften primärqualifizierenden hochschulischen Pflegeausbildung sowie die Vollakademisierung der Hebammenkunde vorangetrieben.

Ein weiterer gesundheitspolitischer Arbeitsschwerpunkt der Landesregierung war die Neuordnung der Krankenhauslandschaft. Nachdem ein von Gesundheitsminister Laumann in Auftrag gegebenes Gutachten dem Land eine zu wenig an den tatsächlichen Bedarfen und der Behandlungsqualität ausgerichtete stationäre Versorgung attestiert hat, wurde von der Landesregierung im Herbst 2020 eine grundlegende Reform der Krankenhausplanung angestoßen. Kern der Reform ist eine Abkehr von der Bettenzahl als zentraler Planungsgrundlage zugunsten einer Planung anhand medizinischer Leistungsbereiche und -gruppen. Durch eine stärkere Leistungssteuerung sollen Über- und Unterversorgung zukünftig reduziert werden. Spezialisierungs- und Konzentrationsprozesse sollen zu einer Verbesserung der medizinischen Versorgungsqualität beitragen.

Gesundheitspolitische Themen 2022

In der kommenden Legislaturperiode dürfte die Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie weit oben auf der Agenda der zukünftigen Landesregierung stehen. Die mit dem Krieg in der Ukraine verbundenen Fluchtbewegungen nach Deutschland stellen das Gesundheitssystem vor eine zusätzliche Herausforderung und werden den gesundheitspolitischen Diskurs kurz- bis mittelfristig begleiten. Darüber hinaus zeichnen sich drei zentrale Themen ab: die Reform der Krankenhausplanung, die sektorenübergreifende Versorgung und die Digitalisierung des Gesundheitswesens.

Parteiübergreifend besteht Einigkeit darüber, dass angesichts knapper finanzieller Mittel und personeller Ressourcen Handlungsbedarf bei der Schaffung zukunftsfähiger Krankenhausstrukturen besteht. Während CDU und FDP an ihren Plänen festhalten und die Neufassung des Landeskrankenhausplanes sowie die damit verbundene Konzentration von Leistungen konsequent umsetzen wollen, lehnt die SPD die vorgesehene Krankenhausreform in ihrer jetzigen Form ab. Sie setzt sich für den Erhalt aller Krankenhausstandorte in NRW ein und will mit einem umfangreichen Investitionsprogramm zur Sicherung der wohnortnahen Krankenhausversorgung beitragen.

Nahezu alle großen Landesparteien fordern, dass die Patientenversorgung über Sektorengrenzen hinweg zukünftig besser organisiert werden muss. Dies betrifft einerseits die Organisation des Notdienstes. So soll die flächendeckende Einführung der Portalpraxen bis Ende 2022 abgeschlossen werden. Darüber hinaus wird die sektorenübergreifende Versorgung in den Wahlprogrammen als Modell einer wohnortnahen gesundheitlichen wie pflegerischen Versorgung „unter einem Dach“ propagiert. Insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen dürfte dieses Konzept vermehrt Zulauf erfahren. Aber auch im Falle der Schließung eines bestehenden Krankenhausstandortes ist schnell die Umwandlung in ein integriertes Versorgungszentrum eine angedachte Alternative.

Digitalisierung im Gesundheitswesen scheint ein weiteres „Zukunftsthema“ zu sein, an dem kein Parteiprogramm vorbeikommt. Gemeint ist sowohl die Digitalisierung der Kliniken und Praxen als auch der Einsatz digitaler Anwendungen in der Versorgung. Die einzelnen Parteien führen in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe zukünftiger Maßnahmen an: die digitale Vernetzung aller an der Patientenversorgung beteiligten Akteure auch über die Sektorengrenzen hinweg, eine verstärkte Nutzung mobiler Endgeräte, insbesondere bei niedergelassenen Ärzten, den weiteren Ausbau des virtuellen Krankenhauses NRW, den Einsatz künstlicher Intelligenz zur Diagnose von Erkrankungen, die Nutzung robotischer Assistenzsysteme sowie die Digitalisierung der Pflegezentren und Pflegedienste. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betonen in diesem Zusammenhang, die Digitalisierung solle für die Verbesserung der Versorgung genutzt werden, doch sie könne menschliche Zuwendung und fachliche Kompetenz nicht ersetzen. Die FDP weist noch einmal gesondert auf die Bedeutung einer guten und sicheren Datenqualität sowie auf die dafür notwendige Definition gemeinsamer Datenstandards hin.

Versorgung erwartet Kontinuität und Wandel

Der bisherige Wahlkampf und die bereits veröffentlichten Wahlprogramme der NRW-Parteien machen deutlich, dass die zukünftige Gestaltung der ambulanten Versorgung auf der Agenda der gesundheitspolitischen Themen der nächsten Legislaturperiode eher eine untergeordnete Rolle spielt. Dennoch haben die oben skizzierten Themenschwerpunkte der nächsten Landesregierung direkte sowie indirekte Auswirkungen auf die ambulante vertragsärztliche Versorgung. So hat der neue Landeskrankenhausplan das Potenzial, die Versorgungslandschaft in NRW für die nächsten Jahrzehnte nachhaltig zu verändern. Dies löst bereits Bestrebungen bei Krankenhausträgern aus, ihre Aktivitäten auf den ambulanten Sektor auszuweiten. Interessant wird daher vor allem sein, welche Konzepte zur Weiterentwicklung wohnortnaher gesundheitlicher Versorgungsstrukturen in NRW von der Politik bevorzugt werden. Die Stärkung der sektorenübergreifenden Versorgung ist ohne eine umfassende Beteiligung der Vertragsärzteschaft nicht denkbar – aber wer wird diesen Prozess steuern? Das Vertrauen in die Gremien der Selbstverwaltung ist in den Parteien unterschiedlich ausgeprägt.

Dr. Viola Gräfe

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