Digitale Anamnese – Was lässt sich in acht Minuten Konsultation erreichen?

Acht Minuten stehen im Schnitt für das Arzt-Patienten-Gespräch zur Verfügung [1] – kein besonders großzügiger Rahmen, wenn man sich zum Ziel setzt, den Patienten und sein Anliegen genau zu verstehen. In dieser Zeit auch noch eine partizipative Entscheidungsfindung vorzubereiten und einen optimal passenden Aktionsplan zu finden? Schwierig. Dabei erhöht man so die Chance, dass Diagnose und Therapie gänzlich verstanden werden und der notwendige Veränderungsprozess, z.B. die Umstellung des Lebensstils oder die plankonforme Medikamenteneinnahme, angestoßen wird.[2]

DatenschutzDer Datenschutz spielt bei der Auswahl des Systems eine kritische Rolle. Informationen, die zuvor persönlich oder vertraulich in der Praxis auf Papier erhoben wurden, werden nun von einer Software erfasst. Da die Verantwortung für den Datenschutz letztlich bei der Praxis liegt, werden folgende Best Practices empfohlen:

1. Ende-zu-Ende-­Verschlüsselung: Patientendaten sollten vollständig Ende-zu-Ende-­verschlüsselt zur Praxis übertragen und gespeichert werden. Dabei sollte allein die Praxis in der Lage sein, die Daten lesen zu können. 

2. IT-Sicherheit: Systeme, die rein lokal in der Praxis betrieben werden, sind nicht zu empfehlen, da die Gewährleistung der IT-­Sicherheit so ausschließlich der Praxis obliegt. Das verspätete Einspielen eines Updates zur Behebung einer Sicherheitslücke oder das Abhandenkommen eines mit dem internen Netzwerk verbundenen Tablets können so leicht ein Einfallstor für Unbefugte eröffnen. Der ressourcenschonende Weg kann die Wahl eines Software-as-a-Service-­Providers für die digitale Anamnese sein, der die Verantwortung für die IT-Sicherheit anstelle der Praxis trägt.

3. Seriöser Anbieter: Der Anbieter sollte vertrauenswürdig sein. Da keine offiziellen Zertifizierungen in diesem Bereich existieren, sind die Professionalität der Verträge (z. B. AGB, Datenschutzerklärung, Auftragsverarbeitungsvertrag) und Referenz-(Groß)Kunden gute Indikatoren dafür, ob der Anbieter den Datenschutz seriös erfüllt.

Für Ärzte bleibt es in den meisten Fällen ein frommer Wunsch, all diese Ziele in der verfügbaren Zeit zu erreichen. Im aktuellen Ärzte­monitor etwa gibt mehr als die Hälfte der Teilnehmer an, sie habe nicht ausreichend Zeit für die Behandlung ihrer Patienten.3 Entsprechend kritisieren Patienten immer wieder, ihr Arzt nehme sich zu wenig Zeit.4

Begriffsklärung 

Digitale Anamnese meint den Ansatz, einen Teil der Konsultation in die Vorbereitung zu verlagern, um das Gespräch effizienter und zielführender zu machen. Mithilfe von Software werden dabei Krankheitsgeschichte, Beschwerden, Anliegen sowie Sorgen und Erwartungen, aber auch administrative Daten des Patienten erhoben. Auch formelle Prozesse, z. B. Einwilligungserklärungen gemäß der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) werden so abgedeckt. Patienten arbeiten mit dem digitalen Anamnesesystem zu Hause am PC oder Smartphone bzw. im Wartezimmer auf einem Tablet.

Gegenüber Papierfragebögen, die bereits für genau diesen Zweck eingesetzt werden, ergeben sich durch die Digitalisierung vielfältige Vorteile:

In prozessualer Hinsicht erfasst die digitale Anamnese Daten zeit- und ortsunabhängig. Patienten können Daten daheim in ihrem Tempo und mit Unterstützung eingeben. Dadurch verbessert sich die Qualität der erhaltenen Informationen, die zudem für die Planung des Termins zur Verfügung stehen.

  • Inhaltlich ist eine detailliert-symptomspezifische Erfassung möglich. Hochwertige Systeme für die digitale Anamnese enthalten eine Logik, bei der die Fragen abhängig vom Krankheitsbild formuliert werden. Im Idealfall werden alle Aspekte automatisch abgefragt, die nach der Leitlinie des jeweiligen Krankheitsbilds abzuklären sind. So lässt sich der Weg deutlich abkürzen, herauszufinden, was nicht das Problem ist.
  • Administrativ entfällt gerade für das Praxispersonal der gesamte Prozess des Ausdruckens, Einscannens und der Ablage in die Patientenakte. Die Arbeit für das Lesen von Handschriften entfällt. Die Antworten und unterzeichneten Formulare werden automatisch in die Patienten­akte abgelegt – wobei das genaue Format auch in der Regel flexibel konfiguriert werden kann. Der womöglich größte Vorteil liegt in der Automatisierbarkeit der Erhebung und Auswertung.

Moderne Systeme lassen sich so in die Praxisprozesse integrieren, dass die für die jeweilige Terminart relevanten Informationen und Formulare sicher vollständig erhoben werden. Ein Beispiel hierfür ist die Verknüpfung der digitalen Anamnese mit der der Online-Terminvergabe. Jeder Patient erhält direkt nach der Terminbuchung ein Set an Formularen und Fragebögen, das abhängig vom gewählten Termin definiert wird.

Strukturierte Daten

Digitale Systeme produzieren strukturierte Daten. Dadurch können Patientenantworten direkt vom Programm ausgewertet werden, etwa über die Hervorhebung von Red Flags oder die automatische Berechnung klinischer Scores. Das ist insbesondere bei standardisierten Fragebögen ein großer Vorteil. Summenscores wie etwa bei der Depressionsdiagnostik müssen so nicht mehr von Hand aufsummiert und interpretiert werden, sondern stehen direkt als Ergebnis zur Verfügung.

Aufwand und Akzeptanz

Erfahrungsgemäß ist die Einführung der digitalen Anamnese ohne großen Aufwand möglich. Die Schnittstelle mit der Praxissoftware wird üblicherweise von dem Anbieter des Anamnesesystems organisiert, sodass der automatisierte Datenaustausch sichergestellt wird. Die Akzeptanz der Patienten ist sichergestellt, wenn das System für alle Altersgruppen einfach zu bedienen und in patientenverständlicher Sprache formuliert ist.

Die zwei wesentlichen Aufgaben der Praxis sind somit:

Die Umstellung der internen Prozesse und Schulung des Personals. Die digitale Anamnese produziert nur dann Mehrwert, wenn sie konsequent und vom gesamten Praxisteam eingesetzt wird. In der Eingewöhnungsphase kann zunächst ein Mehraufwand entstehen, sodass sich die Vorteile für die Praxis zeitverzögert bemerkbar machen.

Die Konfiguration des Workflows (z. B. die Verknüpfung mit der Online-Terminvergabe) und der Fragebögen und Formulare, die erfasst werden sollen. Professionelle Systeme zeichnen sich hierbei dadurch aus, dass eine umfassende Sammlung an Fragebögen bereits im System existiert und sich die Einrichtung somit primär auf die Auswahl der gewünschten Inhalte reduziert. Erfahrenen Anwendern wird jedoch üblicherweise auch die Möglichkeit geboten, einzelne Fragebögen bis ins Detail anzupassen und eigene zu erstellen.

Fazit

Die digitale Anamnese hat das Potenzial, zum Standard in der patientenorientierten Arztpraxis zu werden. Sie gewährt dem Arzt einen deutlichen Informationsvorsprung und ermöglicht es, viele Fragen nicht mehr im Gespräch stellen zu müssen. Gleichzeitig bleibt die Kontrolle über den Prozess vollständig bei der Praxis, denn moderne Systeme überlassen dem Nutzer die Wahl, welche Informationen wann und wie erfasst werden. Die digitale Anamnese lässt sich so adaptiv dem individuellen Arbeitsstil anpassen.

1 Irving G. et al. (2017) International variations in primary care physician consultation time: a systematic review of 67 countries, BMJ Open 2017;7. DOI: 10.1136/bmjopen-2017-017902.
2 Hauser K. et al. (2015) Outcome-Relevant Effects of Shared Decision Making, Deutsches Arzteblatt international Vol. 112, 40 (2015). DOI: 10.3238/arztebl.2015.0665.
3 Kassenärztliche Bundesvereinigung (2018) Ärztemonitor. Ergebnisse zur vierten Befragung im Frühjahr 2018, www.kbv.de/media/sp/infas_Praesentation_Aerztemonitor-2018_LANG.pdf [zuletzt aufgerufen am 29.06.2021].
4 PwC Deutschland (2018) Healthcare Barometer 2018. Wie beurteilen die Deutschen ihr Gesundheitssystem, www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/healthcare-barometer-2018.html [zuletzt aufgerufen am 29.06.2021].

Dr. med. Lucas Spohn
Geschäftsführer Tomes GmbH
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