Aktuelle Arzthaftung – ein Blick in die Gerichtssäle

Die Behandlungsfehlerstatistik der Bundesärztekammer wies für das Jahr 2020 knapp 9.500 gestellte Anträge bei den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen aus. Mit diesen Anträgen wollten Patientinnen und Patienten überprüft wissen, ob es im Rahmen ihrer Behandlung Versäumnisse gegeben hat. Circa 6.200 dieser Anträge betrafen den stationären Bereich. 1.989 Anträge den ambulanten und damit niedergelassenen Bereich.

Die häufigsten in Streit stehenden Krankheitsbilder waren Gonarthrose, Coxarthrose, Frakturen der oberen und unteren Extremitäten, Bandscheibenschäden, Kniebinnenschäden (traumatisch) sowie Spondylopathien. Die Bereiche Orthopädie/Unfallchirurgie waren ebenso wie die klassische hausärztliche Tätigkeit die Fachgebiete mit den meisten Antragstellungen. Am Ende der Statistik findet sich das Fachgebiet der Haut- und Geschlechtskrankheiten wieder. Grund genug, einen Blick aus dem nicht gerichtlichen Bereich in die Gerichtssäle der Republik zu werfen.

OLG Dresden: 

Zeitpunkt der Aufklärung bei einer Koloskopie 

Der Fall

Das OLG Dresden hatte am 16.03.2020 über die Wirksamkeit einer Aufklärung im Rahmen einer ambulanten Koloskopie zu entscheiden. Die Aufklärung wurde am Tag der Koloskopie durchgeführt. Die vorbereitenden Maßnahmen (Darmreinigung) fanden bereits am Tag zuvor im häuslichen Bereich des Patienten statt. Während der Koloskopie kam es zu einer Perforation, die verzögert symptomatisch wurde. Der Patient rügte die Aufklärung am Tag der Kolo­skopie als verspätet. 

Ergebnis

Das OLG Dresden hat die Aufklärung am Tag der Koloskopie als wirksam angesehen. Der Patient sei bereits mehrfach koloskopiert worden, zuletzt zwei Jahre zuvor. Im Übrigen habe bereits in der Vergangenheit eine Hemikolektomie wegen eines Darm CA stattgefunden. Die Darmreinigung im häuslichen Bereich sei lediglich als Vorbereitungsmaßnahme anzusehen und eben noch nicht als der ambulante Eingriff. Bei ambulanten Eingriffen reiche eine Aufklärung am Tage des Eingriffs aus, wenn dem Patienten die Entscheidung überlassen werde, den Eingriff durchführen zu lassen. Eine Ausnahme gilt für die Aufklärung über erhöhte Komplikationsrisiken. Hier ist aus Beratersicht klare Vorsicht geboten. Liegt bei einer Patientin oder einem Patienten ein bestimmtes erhöhtes Komplikationsrisiko vor, so ist nach der Prozesserfahrung des Unterzeichnenden im Regelfall davon auszugehen, dass eine Aufklärung über diese erhöhten Risiken am Tag des Eingriffs verspätet und damit unwirksam ist, es sei denn, die Patientin bzw. der Patient hat dennoch ausreichend Bedenkzeit oder kennt dieses erhöhte Risiko eben schon aus vorangegangenen Aufklärungen. 
 

Bundesgerichtshof: 

Elektronische Dokumentation und Beweiswert

Der Fall

Dem hier am 27.04.2021 entschiedenen Fall lag eine augenärztliche Behandlungskonstellation zugrunde. Im konkreten Fall ging es um die Frage, ob die niedergelassene Augenärztin zum Zeitpunkt der Vorstellung eine Netzhautablösung erkennen musste oder nicht. Die Angaben des Patienten im Prozess wichen inhaltlich von dem dokumentierten Befund ab. Allgemein gilt, dass einer ärztlichen Dokumentation bis zum „Beweis des Gegenteils“ zu glauben ist. Behauptete also ein Patient, dass der Inhalt der Dokumentation unrichtig sei, so musste er dieses stets beweisen, was faktisch nur in Ausnahmefällen möglich war. Es stellt heute kein Novum mehr da, digital zu dokumentieren. Der BGH hatte in dem streitigen Fall einer ambulanten augenärztlichen Behandlung über den Beweiswert einer elektronischen Dokumentation zu entscheiden. 

Ergebnis

Es wurde klargestellt, dass eine elektronische Dokumentation einen positiven und/oder negativen Indizwert nur noch dann beanspruchen könne, wenn diese elektronische Dokumentation eine fälschungssichere Organisation beinhalte. Die Softwarekonstruktion müsse also gewährleisten, dass nachträgliche Änderungen erkennbar seien. Hält eine ambulant genutzte Software diesen Standard nicht vor, so führt dies aber nicht per se dazu, dass die elektronische Dokumentation keinen Nutzen mehr hat. Es liegt dann vielmehr in der Beweissphäre der Praxis, die Richtigkeit des dokumentierten Inhalts nachzuweisen. Der bisher geltende Grundsatz zugunsten des Behandlers, wonach „der Inhalt der Dokumentation als so zutreffend zugrunde zu legen ist“ gilt dann nicht mehr uneingeschränkt. 

Bundesgerichtshof: 

Grober Behandlungsfehler ist nicht mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen

Der Fall

Eine immer wieder mit ärztlicher Sorge behaftete Frage ist, ob die Annahme eines „groben Behandlungsfehlers“ mit „grober Fahrlässigkeit“ gleichzusetzen sei. Die Frage kommt insbesondere deswegen auf, weil die Sorge besteht, dass bei Annahme von grober Fahrlässigkeit der Versicherungsschutz in der Berufshaftpflichtversicherung entzogen werde oder der Arbeitgebende Regress nehmen könne. Der BGH hat nun klargestellt, dass die Annahme eines groben Behandlungsfehlers nicht mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen sei. In dem Urteil vom 22.03.2022 ging es um die Frage, ob bei einem differentialdiagnostisch in Betracht zu ziehenden Herzinfarkt die Katheterdiagnostik ausreichend zügig indiziert worden ist. 

Ergebnis

Der BGH hat klargestellt, dass die Annahme eines groben Behandlungsfehlers keineswegs mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen oder ein Indiz für grobe Fahrlässigkeit sei. Bei der Annahme eines groben Behandlungsfehlers werde nur geprüft, ob ein Behandlungsfehler so schwer sei, weil er gegen gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoße. Bei grober Fahrlässigkeit reiche ein solcher Maßstab nicht aus. Hier müsse vielmehr noch eine persönlich vorwerfbare schwere Fehlleistung der jeweiligen Ärztin bzw. des Arztes hinzukommen. Die Entscheidung ist absolut begrüßenswert, weil die aufgeworfene Frage immer wieder thematisiert wird und gerade für den Bereich des Versicherungsschutzes oder einen arbeitsrechtlichen Regress aufgegriffen wird. Mit der Entscheidung sollte nun klargestellt sein, dass ein grober Behandlungsfehler nicht ohne Weiteres die Versagung von Deckungsschutz oder arbeitsrechtliche Rückgriffsansprüche rechtfertigen kann.

Aufklärung bei NeulandmethodenBei Neulandmethoden, also solchen, die noch nicht lange etabliert sind und bei denen auch noch unbekannte Risiken zutage treten können, weil mittelfristige bzw. langfristige Ergebnisse fehlen, würden folgende zusätzliche Aufklärungsstandards gelten:

  1.     Es müsse immer der Hinweis erfolgen, dass der geplante Eingriff nicht oder noch nicht dem medizinischen Standard entsprechen würde.
  2.     Es müsse ein deutlicher Hinweis erfolgen, dass es noch unbekannte und derzeit nicht auszuschließende Risiken gebe.
  3.     Der Patient müsse klar vermittelt bekommen, dass die Behandlungsmethode unbekannte und vielleicht auch schwerwiegende Risiken mit sich bringen könne.
  4.     Der Patient müsse zusätzlich zu dieser Neulandmethode über ernsthafte alterna­tive Behandlungsmethoden aufgeklärt werden.

Bundesgerichtshof: 

Aufklärung bei Neulandmethode

Ein weiterer hervorzuhebender Fall ist die hiesige Entscheidung des BGH vom 18.05.2021 zur Aufklärung über Neulandmethoden. Die Anforderungen an eine solche Aufklärung haben sich rechtlich durch die Entscheidung nicht verändert. Der Fall der Neulandmethode kommt im Praxisalltag auch vergleichsweise selten als Problem vor. Umso mehr lohnt es sich, die Grund­züge der Anforderungen an eine Aufklärung über eine solche Neulandmethode hier darzustellen (s. Infokasten unten). 

Der Fall

Der hiesige Fall betraf die Implantation einer Bandscheibenprothese im stationären Setting, bei der es postoperativ zu weitreichenden Komplikationen mit Revisionen und einem chronischen Schmerzsyndrom kam. Die hier maßgebliche Bandscheibenprothese unterschied sich von den üblichen auf dem Markt befindlichen Prothesen­typen, da der Prothesenkern anders beschaffen war. Über die Risikoentwicklung und Stabilität der Prothese lagen keine Langzeitergebnisse vor. Nach einem erstmaligen Chargenrückruf wurden im weiteren Verlauf alle Prothesen seitens des Herstellers vom Markt genommen. Der BGH hat betont, dass die Aufklärung bei dieser Neulandmethode unwirksam gewesen sei. 

Ergebnis

Aus der Entscheidung folgt, dass auch im ambulanten Bereich die Eingriffs­aufklärung (etwa für eine ambulante Ope­ration) anhand eines standardisierten Aufklärungsbogens vorgenommen werden sollte. Der Unterzeichner empfiehlt es dringend, diese Aufklärungsbögen durch Markierungen zu individualisieren, umso in einem vielleicht späteren Verfahren den Nachweis zu führen, worüber aufgeklärt worden ist. Denn auch hier sind die Gerichte großzügiger, sofern ein individualisierter Aufklärungsbogen vorliegt. Es gilt dann nämlich die Vermutungs­wirkung, dass der individualisierte Inhalt eines Aufklärungsbogens Gegenstand des Aufklärungsgesprächs gewesen ist.
 

OLG Hamm:

Schmerzensgeld bei inkomplettem Querschnitt/Chirotherapie 

Der Fall

In dem hier entschiedenen Fall vom 02.02.2021 ging es um eine chirotherapeutische Behandlung durch einen Facharzt für Allgemeinmedizin. Die chirotherapeutische Behandlung brachte eine kurzzeitige Verbesserung der akuten Symptomatik. Später kam es hingegen zu einer massiven Schmerzexazerbation mit einer Klinikeinweisung. Im durchgeführten Thorax-CT zeigte sich ein subdurales Hämatom im Bereich des Spinalkanals BWK 3 und 4. Das Hämatom wurde ausgeräumt. Es imponierte eine Schmerzpersistenz. Es zeigten sich darüber hinaus arachnoidale Verklebungen und Zystenbildungen im oberen BWK-Bereich. Auch hier kam es zu einer operativen Ausräumung. Seitdem bestand ein inkompletter Querschnitt. 

Ergebnis

Das OLG Hamm hat die Aufklärung in dem hiesigen Fall für unwirksam gehalten. Es sei weder über ernsthafte alternative Behandlungsmethoden gesprochen worden noch sei das erhöhte Blutungsrisiko des Klägers bei einer chirotherapeutischen Maßnahme wegen seiner Medikation thematisiert worden. Die Medikation habe eine relative Kontraindikation für die chiro­therapeutische Maßnahme begründet. Alternativen wie Bewegungsübungen oder physikalische Therapie seien nicht thematisiert worden. Das Gericht urteilte 150.000 € Schmerzensgeld aus und stellte fest, dass der Beklagte für den gesamten Zukunftsschaden haften würde.

Bundesgerichtshof: 

Arbeitsteilung im Mammografie-Screening-Programm

Der Fall

Eine immer wieder aufkommende Fallkonstellation ist die Frage der Haftungsverteilung innerhalb eines Mammografie-Screening-Programms. Im hier entschiedenen Fall vom 26.05.2020 ging es um die Frage der Arbeitsteilung zwischen dem Radiologen der Screeningeinheit und dem behandelnden Gynäkologen. Bei einem Screening im April 2012 zeigte sich bei der Patientin eine seit circa einem Jahr rechtsseitig eingezogene Mamille. Dieser Befund wurde vom Screening als unauffällig mit BIRADS 1 bewertet. Bei der Vorstellung in der Gynäkologie zwei Jahre später wurde dann die Diagnose Brustkrebs (invasives sowie lobuläres Karzinom) gestellt. 

Ergebnis

Das Gericht entschied, dass die Befundung aus April 2012 fehlerhaft gewesen sei. Die Klassifikation als BIRADS 1 sei zwar vertretbar gewesen. Seitens des programmverantwortlichen Arztes hätte aber der zwingende Hinweis erfolgen müssen, dass eine weitere Abklärung erfolgen müsse. Die Anamnese sei als Zeichen eines potenziellen Mamma-CA zu werten. Der Radiologe im Screening-Programm könne sich nicht darauf verlassen, dass eine behandelnde Gynäkologin bzw. ein Gynäkologe diese Abklärung ohne Hinweis vornehme. Denn Patientinnen würden zum Screening-Programm nicht aufgrund einer Überweisung der Gynäkologin bzw. des Gynäkologen kommen, sondern anhand der Daten im Melderegister. Es gelte daher nicht der Grundsatz der horizontalen Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Fachärztinnen und -ärzten. Im Rahmen eines Screenings müssten alle relevanten pathologischen Befunde (auch Zufallsbefunde) einer Abklärung durch eine andere Behandlerin bzw. einen anderen Behandler zugeführt werden. Hier knüpft die Hinweispflicht im Screening-Programm an.

OLG Hamm: 

Aufklärung bei Infiltrationstherapie des „Tennisarms“

Der Fall

Abschließend soll noch ein Blick auf eine Entscheidung des OLG Hamm vom 15.02.2022 geworfen werden. Der Kläger im hiesigen Fall stellte sich wegen Beschwerden im rechten Ellenbogen bei dem Beklagten vor. Dieser diagnostizierte eine Epikondylitis humeri radialis rechts. Es bestanden akute Schmerzen. Therapeutisch erfolgte eine Injektion mittels Triam und Xylometazolin. Fünf Tage später zeigten sich in der Sonografie eine Flüssigkeitsansammlung im Bereich des Epikondylus radialis und des Olecranon sowie eine Schwellung des Ellenbogens. Tage später erfolgte im stationären Bereich eine chirurgische Revision des entstandenen Gelenkempyems. Im Abstrich zeigte sich Staphylococcus aureus. 

Ergebnis

Das Gericht sprach ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 € sowie die zukünftige Ersatzpflicht zu. Das Gericht war der Auffassung, dass die Aufklärung unwirksam gewesen sei. Der Beklagte habe nämlich nicht den Nachweis führen können, dass über derzeit in Betracht kommende echte Behandlungsalternativen gesprochen worden sei. Die Auswahl der konkreten Behandlungsmethode sei zwar primär Sache der behandelnden Ärztin bzw. des Arztes. Diese bzw. dieser entscheide aufgrund der eigenen ärztlichen Fachkompetenz, welche Behandlung für die konkrete Patientin bzw. den Patienten in Betracht komme. 

Eine Ausnahme gelte aber, wenn es für das konkrete Krankheitsbild bzw. die Symptomatik mehrere ernsthafte Behandlungsalternativen geben würde, die alle­samt unterschiedliche Risiken und Chancen aufweisen würden. In einem solchen Fall müssten der Patientin bzw. dem Patienten die ernsthaft in Betracht zu ziehenden Alternativen mit den Vor- und Nachteilen erläutert werden. Dies gelte im vorliegenden Fall insbesondere deshalb, weil die Therapie des Tennisarms seit Jahren umstritten sei und vorliegende medikamentöse Therapien, eine physikalische Therapie oder eine Rückstellung ernsthaft in Betracht gekommen wären.

Ausblick
Die Rechtsprechung zur Arzthaftung hat sich auch in den Jahren 2021 bzw. 2022 nicht wesentlich verändert. Einzige Ausnahme gilt für die hier zitierte Entscheidung zur elektronischen Dokumentation. Auch die wünschenswerte Klarstellung zur groben Fahrlässigkeit stellt ein Novum dar. Ansonsten ist – so auch die 13-jährige Prozesserfahrung des Unterzeichners für Ärztinnen und Ärzte und Kliniken – die Rechtsprechung weder strenger noch komplexer geworden. Sie liegt vom Grundsatz her auf konstanter Linie. Bei den Schmerzensgeldhöhen ist eine Tendenz nach oben zu erkennen. Sie ändert aber nichts an der grundsätzlichen Ausgangslage. Konstant geblieben ist auch der Versuch auf Klägerseite, die jeweilige Aufklärung und Dokumentation im Streitfall juristisch anzugreifen.

Frank Sarangi, LL.M.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht 
Lehrbeauftragter der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten Herdecke
Kanzlei am Ärztehaus, Köln Marienburg
Oberländer Ufer 174, 50968 Köln
f.sarangi@kanzlei-am-aerztahaus.de 
www.kanzlei-am-aerztehaus.de

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