Adipositas begünstigt Autoimmunerkrankungen

Mario Gehoff. Multiple Sklerose, Neurodermitis, Atherosklerose, Psoriasis – chronisch entzündliche Erkrankungen sind auf dem Vormarsch. Gleichzeitig wächst auch die Anzahl adipöser Menschen, vor allem begünstigt durch eine Fehlernährung mit einem Zuviel an Fett, Zucker und anderen Kohlenhydraten. Dabei decken Wissenschaftler immer mehr Zusammenhänge zwischen Entzündungen und Autoimmunerkrankungen auf.

Zitierweise: HAUT 2021;32(3):122-126

Laut WHO sind chronisch entzündliche Krankheiten heute für zwei Drittel aller weltweiten Todesfälle verantwortlich. Dabei sind Entzündungen per se nichts Schlechtes: Sie haben eine wichtige Funktion im Immun­system und schützen den Körper vor schädlichen Einflüssen wie Viren, Toxinen oder abnormalen Zellen.

Es gibt unterschiedliche Formen von Entzündungen, im Großen und Ganzen läuft aber immer derselbe Prozess ab: Ein Fremdkörper wird erkannt, die Blutgefäße werden geweitet und damit durchlässiger. Aus den geweiteten Gefäßen gelangen Makrophagen und andere Immunzellen schnell zum Einsatzort. Die Makrophagen Typ M1 schütten dort entzündungsfördernde Botenstoffe aus, beispielsweise Prostaglandine, die unter anderem den lokalen Schmerz auslösen. Gleichzeitig hat die stärkere Durchblutung zur Folge, dass rund um den Infektionsort die Körpertemperatur steigt und sich die Haut rötet. Blutplasma lässt die Stelle zusätzlich anschwellen. Nun zersetzen die Makrophagen das Fremdgewebe. Anschließend, in der Abklingphase der Entzündung, werden entzündungsauflösende Botenstoffe ausgeschickt, welche die Makrophagen Typ M2 aktivieren. Diese entsorgen die Reste der abgetöteten Fremdkörper und der beschädigten Zellen. Die Reparaturmaßnahmen durch weitere Immunzellen beenden die Abwehrreaktion.

Fehlerhafte Immunreaktionen

Der auslösende Reiz des Immunsystems muss aber nicht immer krankheitsbedingt sein oder von außerhalb des Körpers kommen. Immunreaktionen können auch fehlerhaft sein, wenn die Entzündungsprozesse im Körper außer Kontrolle geraten und das Immunsystem gesunde körpereigene Zellen angreift. Die Folge: Mit den nun beschädigten Zellen gibt es tatsächlich einen Schädling im Körper. Das Immunsystem wird aktiv und bekämpft dieses schadhafte Gewebe, für dessen Entstehen es selbst verantwortlich war. Der Beginn einer Kettenreaktion. Dabei können Entzündungen auch auf nahezu jedes andere Organ überspringen.

Verantwortlich für die Immunantwort ist eine weitere Gruppe von Botenstoffen, die Zytokine. Dieser Peptidwirkstoff, hauptsächlich produziert von aktivierten Immunzellen, ist Teil der interzellulären Kommunikation und vermittelt pro- und antientzündliche Effekte. Zytokine aktivieren die Makrophagen, docken an die feindlichen Zellen an und markieren diese als Ziel. Bei manchen Erkrankungen kommt es jedoch zum sogenannten Zytokinsturm, einer potenziell lebensgefährlichen Entgleisung des Immunsystems: Dabei werden unkontrolliert immer mehr Zytokine freigesetzt, die nicht mehr nur das schadhafte Gewebe, sondern auch gesundes Gewebe markieren. Das Immunsystem greift dann die gesunden Körperzellen an, es entsteht eine sich selbst verstärkende Rückkopplung zwischen Zytokinen und Immunzellen. Verschiedene Studien legen nahe, dass der Zytokinsturm auch für die außergewöhnlich schnelle Verschlechterung des Zustandes von Patienten mit COVID-19 verantwortlich ist, die sich nur kurze Zeit zuvor noch ganz wohlgefühlt haben.

Gefährlich sind nicht nur akute Entzündungen, sondern auch Entzündungen, die lange im Körper lodern. Knapp ein Viertel aller Krebserkrankungen wird heutzutage mit chronischen Entzündungen in Verbindung gebracht. Der Ablauf ist auch hier immer derselbe: Entzündungszellen greifen das gesunde Gewebe an, das Immunsystem reagiert mit Abwehr und Wiederaufbau. Da das geschädigte Gewebe aber dauernd erneuert werden muss, wächst zugleich das Risiko von Tumoren. Aber auch Autoimmunerkrankungen stehen im Zusammenhang mit Entzündungen, die dauerhaft aktiv sind: Parkinson, Multiple Sklerose, Morbus Crohn, Atherosklerose, Neurodermitis, Diabetes Typ 2 – und Schuppenflechte.

Übergewicht und Ernährung als Treiber

Es gibt viele verschiedene Faktoren, die chronische Entzündungen verursachen. Aber Übergewicht und Ernährung haben einen großen Einfluss darauf, dass Entzündungsherde ständig weiter angefeuert und chronisch werden. Beispiel Fettleber: Viele Erwachsene können keine neuen Fettzellen bilden. Bei zu hochkalorischer Ernährung werden also die vorhandenen Fettzellen quasi überladen, auch die der Leber. Zudem speichert das Organ im Blut gelösten Zucker in seinen Fettzellen, indem kurzkettige Kohlenhydrate in Fettsäuren umgewandelt werden. Bei einem ständigen Zuckernachschub verfettet die Leber somit immer mehr. Forscher fanden heraus: Sind die Leberzellen überlastet, sammeln sich Blutplättchen in dem Organ an. Diese senden ein Warnsignal an den Körper. Daraufhin schickt dieser B- und T-Lymphozyten in die Leber, die dort eine Entzündung auslösen. Muss zu viel Fett und Zucker in Leber und Muskeln eingelagert werden, verbleibt aufgrund der überfüllten Speicher der restliche Zucker im Blut. Daraufhin produziert die Bauchspeicheldrüse verstärkt Insulin, doch reagieren die Zellen nicht mehr ausreichend auf das Insulin. Die Insulinresistenz sorgt dafür, dass weniger Zucker in die mit der Zeit abgestumpften Zellen eindringt. Der Zucker verbleibt im Blut, setzt sich in den Gefäßen ab und sorgt so für verstopfte Adern. Bestes Beispiel: Atherosklerose, die Verkalkung der Arterien, die zu Herzinfarkt oder Schlagfall führen kann. Erste Forscher aus Deutschland konnten kürzlich auch zeigen, dass sich bei adipösen Menschen selbst im Gehirn Entzündungen bilden. Just an der Stelle, die das Sättigungsgefühl reguliert. Eine Entzündung mitten im Appetitzentrum sorgt dafür, dass sich bei diesen Menschen das Sättigungs­gefühl erst viel später einstellt. Die Betroffenen essen unkontrolliert und damit viel zu viel, was wiederum die Entzündungen weiter befeuert: ein Teufelskreis. Dabei sind die bi­ochemischen Auswirkungen auf der Ma­kroebene genauso vielfältig wie auf der Mikroebene in den Zellen.

Im Fettgewebe

Je mehr Übergewicht ein Mensch hat, desto mehr Fettmasse besitzt er. Sowohl Fettzellen als auch Immunzellen dringen ins Fettgewebe ein und stoßen hohe Konzentrationen an Adipokinen aus. Diese Botenstoffe gelangen in die Blutbahn und beeinflussen maßgeblich den Energiestoffwechsel und die Insulinwirkung. Sie sind verantwortlich für eine entzündungsfördernde Reaktion und stören das Gleich­gewicht zwischen zwei Arten von Immun­zellen: den T-Helferzellen Typ 17 (Th17) und den regulatorischen T-Zellen (TReg).

Gas- und Bremspedal des Immunsystems

Im gesunden Menschen identifizieren Th17-Zellen eindringende Krankheitserreger, zum Beispiel Bakterien und Pilze. Gerade aber die autoaggressiven Th17-Zellen scheinen bei vielen Autoimmunerkrankungen eine verheerende Rolle zu spielen. Ob eine derartige Erkrankung entsteht oder nicht, hängt unter anderem mit dem Gleichgewicht zwischen Th17- und TReg- Zellen zusammen.

Darüber hinaus wurde bei adipösen Menschen beobachtet, dass sich sowohl die Verteilung und Wirkung von B-Lymphozyten als auch die von NK-Zellen (natürliche Killerzellen) verändert. B-Zellen sind als einzige Zellen in der Lage, Plasmazellen zu bilden, die wiederum Antikörper ausschütten können. Damit sind sie ein entscheidender Bestandteil des adaptiven Immunsystems. NK-Zellen wiede­rum erkennen und eliminieren als Teil des angeborenen Immunsystems abnormale Zellen wie Tumorzellen und virusinfizierte Zellen.

Apoptosis Inhibitory Macrophage (AIM)

Bei fettleibigen Menschen produzieren die Gewebemakrophagen mehr AIM-Proteinkomplexe, die bei einer Vielzahl von Krankheiten die Apoptose, den programmierten Zelltod, verhindern. Darüber hinaus regen AIM-Proteine die Bildung von gesättigten Fettsäuren an, die die sogenannten Inflammasome aktivieren. Diese sind für den Start der Entzündungsreaktionen verantwortlich. Auch eine Fehlregulation der Inflammasome führt somit zum dauerhaften Lodern der Entzündungen im Körper und kann unter anderem auch zu Autoimmunerkrankungen führen.

Durch AIM steigt zudem die Konzentration des Antikörpers Immunglobulin M (IgM). Immunglobuline spielen eine zentrale Rolle im Immunsystem: Sie sind darauf programmiert, Krankheitserreger zu erkennen und abzuwehren. Dafür verbinden sich die Antikörper auf der einen Seite mit dem Krankheitserreger oder Fremdstoff und auf der anderen Seite mit den Makrophagen, die dann den Krankheitserreger zerstören. Immunglobuline M werden als erste bei einem Kontakt mit Krankheitserregern gebildet und stellen die wirksame erste Abwehr­linie im Organismus dar. Wie aber schon erwähnt, können Antikörper auch fehlprogrammiert sein und sich gegen körpereigene Zellen richten: Gesundes Körpergewebe wird geschädigt und zerstört. Es kommt wiederum zu Entzündungen und der Teufelskreis beginnt von Neuem.

Darmmikrobiom

Auch das Gleich- oder Ungleichgewicht des Darmmikrobioms kann verantwortlich sein für chronische Entzündungen und Autoimmunerkrankungen. Somit spielt eine gesunde Darmflora eine wichtige Rolle für das eigene Wohlbefinden. Studien zeigen: Eine stark fettreiche und gleichzeitig ballaststoffarme Ernährung – Hauptbestandteil der westlichen Ernährung – über nur wenige Wochen verändert die Darmflora massiv. Immunreaktionen wie Entzündungen oder auch die Disbalance zwischen Th17- und TReg-Zellen sind die Folge.

Vitamin D

Fettleibige Menschen haben häufig auch einen Vitamin-D-Mangel. Gleichzeitig scheint ein niedriger Vitamin-D-Spiegel sowohl mit einer erhöhten Produktion von Th17-Zellen, B-Zellen und Antikörpern als auch mit einer reduzierten Anzahl von TReg-Zellen in Zusammenhang zu stehen.

Betrachtet man diese vielfältigen körperlichen Effekte, die chronische Entzündungen durch beispielsweise eine falsche Ernährung und Übergewicht mitbringen, wird verständlich, warum die Forschung mittlerweile chronische Entzündungen als Motor für viele der typischen Volkskrankheiten sieht. Was könnte dagegen helfen? Allgemein weniger Immunreize natürlich, damit das Immunsystem nur dann reagiert, wenn es auch wirklich gebraucht wird. Niedrigkalorisches Essen? Auf jeden Fall. Und Sport. Dabei ist Sport selbst ein Immunreiz, wenn auch einer mit einer positiven Wirkung. Warum? Werden Muskeln durch sportliche Belastung beansprucht, verursacht das einen entzündungsähnlichen Zustand. Und wie bei jeder Immun­antwort werden sowohl die entzündungsförderlichen T-Zellen als auch die regulatorischen T-Zellen ausgeschüttet – und trainiert. Mit jedem Training lernt also das Immunsystem, dass dieser Immunreiz durch den Sport nichts Schlimmes ist. Es passt sich an und reagiert beim nächsten sportlichen Immunreiz ausgeglichener. Und im Idealfall reagiert es auch bei jedem anderen Immunreiz ausgewogener. Zudem leert Sport die Fettspeicher in Leber und Muskeln und verringert damit die Anzahl der lodernden Entzündungen im Körper.

Weltweit sterben drei von fünf Menschen an Krankheiten, die durch chronische Entzündungen, einen Schlaganfall oder unterschiedliche Krebsarten verursacht werden. Zudem erhalten viele Menschen mit Entzündungen Schmerzmittel, Antidepressiva, Kortikosteroide und andere Medikamente, die oft mit schweren und potenziell lebens­bedrohlichen Nebenwirkungen verbunden sind. Die WHO erwartet dabei, dass sich das Problem chronischer Entzündungen durch Fettleibigkeit innerhalb der nächsten 30 Jahre sogar noch drastisch verschärfen wird – es sei denn: Wir ändern unseren Lebensstil und damit auch unsere Essgewohnheit grund­legend.

Mario Gehoff, Institut für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVDP), Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Mit freundlicher Genehmigung  des ­PsoNet-Magazins.

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