Präzisionsmedizin zwischen großen Chancen und kleinem Nutzen

Jeder Tumor ist individuell. Und er kann häufig mittels modernster Analysemethoden innerhalb kurzer Zeit in all seinen Eigenschaften „ausgelesen“ werden. So offenbart er präzise, individuelle Zielpunkte für Medikamente, die ihn ausschalten – das ist das Prinzip der Präzisionsonkologie. In der Versorgungsrealität aber kommen – nach Auswahl geeigneter Patientinnen und Patienten und aufwändiger Diagnostik – neue Behandlungsansätze dann oft nicht zum Einsatz.

Jeder Mensch ist einzigartig. Das gilt auch, wenn er erkrankt – etwa an Krebs. So können Tumoren derselben Krebsart ganz unterschiedliche zelluläre und genetische Eigenschaften, etwa bestimmte Mutationen, aufweisen. Sie sorgen dafür, dass bei gleicher Therapie die Behandlung bei unterschiedlichen Betroffenen unterschiedlich gut anschlägt. „Diese Erkenntnisse – zusammen mit der rasanten Entwicklung technischer Verfahren der Hochdurchsatzdiagnostik – eröffnen nie dagewesene Möglichkeiten einer hochpräzisen, maßgeschneiderten Medizin der Zukunft“, sagt Professor Dr. med. Andreas Neubauer, Onkologe und Kongresspräsident des 130. Internistenkongresses 2024.

Wo Präzisionsmedizin die Behandlung bereits grundlegend verändert hat

Präzisionstherapie ist aktuell noch nicht überall in der Krebsmedizin anwendbar. Aber bei einzelnen Krebsarten hat sie die Behandlung bereits grundlegend verändert: So weisen etwa 30 bis 50 Prozent der Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs bestimmte Mutationen auf, die mit einer zielgerichteten Therapie angesteuert werden können. Selbst Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem Krebs können so heute viele Jahre und mit weniger Nebenwirkungen leben, während die Überlebenszeit bei der Behandlung mit einer klassischen Chemotherapie nur wenige Monate beträgt. Ein spektakuläres Beispiel für zielgerichtete Therapie zeigte sich 2022 auch beim Rektumkarzinom: US-Amerikanische Wissenschaftler hatten in einer Studie bei zwölf Betroffenen mit fortgeschrittenem Mastdarmkrebs, bei denen eine bestimmte Veränderung (Mikrosatelliteninstabilität) im Tumor entdeckt wurde, eine zielgerichtete Immuntherapie angewandt. Daraufhin bildete sich der Tumor bei allen vollständig zurück – ohne weitere Chemotherapie, Bestrahlung oder OP. Allerdings: Nur etwa 5 bis 10 Prozent der Mastdarmkrebs-Erkrankten weisen diese Veränderung als Zielstruktur auf.

Molekulare Tumorboards: Brücke zwischen Technologie und Klinik

Bei vielen Krebsarten muss die Wirksamkeit präzisionsmedizinischer Ansätze in Studien erst noch nachgewiesen werden. „Präzisionsonkologie kommt aktuell vor allem für Betroffene in Frage, bei denen die Standard-Krebstherapie ausgeschöpft ist, die aber dennoch eine ausreichende Lebenserwartung haben. Typischerweise sind das junge Patientinnen und Patienten, oder solche mit seltenen Krebsarten“, sagt PD Dr. med. Elisabeth Mack, Oberärztin an der Klinik für Hämatologie und Onkologie des Universitätsklinikums Marburg und Leiterin des dortigen Zentrums für personalisierte Medizin-Onkologie. Am Anfang steht dann die Analyse der Tumoren mit modernen technischen Verfahren. „Das Next Generation Sequencing etwa – eine verbesserte Technologie zur DNA-Sequenzierung – macht es heute möglich, alle diagnostisch oder therapeutisch relevanten Varianten einer (Tumor)-DNA einschließlich einiger komplexer Biomarker innerhalb weniger Tage auszulesen.“ Diese Genomsequenzierungen und die sich aus ihnen ableitenden Möglichkeiten der Therapie werden dann in sogenannten molekularen Tumorboards(MTB), die in Zentren für personalisierte Medizin angesiedelt sind, besprochen. Hier wird das genomische, biologische und klinische Wissen von Expertinnen und Experten unterschiedlicher Qualifikationen zusammengeführt – eine aufwändige und ressourcenintensive Tätigkeit.

Empfohlene Behandlung wird oft nicht umgesetzt

„Umso bedauerlicher ist es, dass die von Molekularen Tumorboards empfohlenen Therapien dann nur in etwa ein Drittel der Fälle durchgeführt wird – weil es an klinischen Studien mangelt, in die die Betroffenen eingeschlossen werden könnten, und Krankenkassen die Bezahlung der noch nicht zugelassenen Therapien oft ablehnen“, so Mack. „Im Ergebnis zeigt sich dann in den Daten, dass aktuell nur etwa 3 bis 10 Prozent aller Krebspatienten einen klinischen Nutzen von der Präzisionsmedizin haben. Würden jedoch tatsächlich alle Patientinnen und Patienten nach den Empfehlungen der Molekularen Tumorboards behandelt, profitierten sie in etwa 30 Prozent der Fälle.“

Welche Lösungen gibt es und was sollten Betroffene beachten?

„Wenn die hochspezialisierte und aufwändige Tätigkeit, die molekulare Tumorboards erbringen, viel zu oft nur ins Leere läuft, stellt das eine gigantische Verschwendung von Ressourcen dar – hier brauchen wir unbedingt bessere Konzepte“, sagt Neubauer. „Ein Ansatz etwa könnte sein, dass Behandlungskosten unter der Voraussetzung übernommen werden, dass sie an zertifizierten Zentren stattfinden, und die Patienten in Registerstudien eingeschlossen werden – so wäre sichergestellt, dass vielversprechende Ansätze der Präzisionsmedizin im Sinne einer akademisch-klinischen Wissenschaft tatsächlich erforscht werden.“ An Krebs erkrankten Patientinnen und Patienten rät Neubauer: „Gehen Sie für Ihre Behandlung an ein von der DKG zertifiziertes Krebszentrum – an diesen Zentren liegen die besten Qualifikationen und Erfahrungen vor, welche Therapie für Sie persönlich die beste ist“.

Kosten ohne Ende?

Die Kosten im Gesundheitssystem steigen bisher unaufhaltsam, was seit längerem in bisher unwirksamen gesundheitspolitischen Initiativen mündet. Präzisionsmedizin kann sehr teuer sein, auch wenn sie bisher nur einen geringen Anteil an den gesamten Gesundheitskosten hat. „Statt sich über die hohen Kosten wirksamer Behandlungsmaßnahmen den Kopf zu zerbrechen, sollten wir auf alles verzichten, was nachweislich für unsere Patientinnen und Patienten keinen Vorteil bringt. In USA schätzen die Autoren einer Metaanalyse die Verschwendung im Gesundheitssystem auf ca. 25% der Gesamtkosten, sagt Professor Dr. med. Georg Ertl, Generalssekretär der DGIM und Kardiologe aus Würzburg.

Literatur

130. Internistenkongress und Patiententag:  13.-16.04.2024, https://kongress.dgim.de/

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e.V.

 

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