Querschnittlähmung als Risikofaktor für Harnblasenkrebs

Kann eine traumatisch bedingte Querschnittlähmung Auslöser dafür sein, dass Betroffene Jahre später an Harnblasenkrebs erkranken? Darauf deuten Studienergebnisse eines nationalen Netzwerks aus Urologen, Juristen und Forschenden hin.

Wird die vom Rückenmark ausgehende Nervenversorgung der Blase unterbrochen, ausgelöst durch eine Querschnittlähmung, stellt das einen Hauptrisikofaktor für die Tumorentstehung dar. Die „International Spinal Cord Society“ hat die langjährige Forschung, an der u.a. das Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) beteiligt ist, nun mit einem Posterpreis ausgezeichnet.

„Dass die internationale Fachwelt unsere Studienergebnisse in Form eines Posterpreises anerkennt, hat eine enorme soziale Bedeutung für Betroffene sowie deren Angehörige“, sagt Studienautor Dr. Ralf Böthig vom Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Hamburg. Denn die Auszeichnung liefert den Sozialgerichten ein weiteres Argument, den Tod durch Harnblasenkrebs als Folge der Querschnittlähmung anzuerkennen. Nur wenn dieser Zusammenhang von der Fachwelt anerkannt wird, haben Angehörige Anspruch auf Zahlung einer Unfallrente durch die Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) – auch nach dem Tod des Versicherten.

Bislang fehlte es Gutachtern jedoch an geeigneter Literatur, um bezüglich eines ursächlichen Zusammenhangs Entscheidungen vorzuschlagen, die von den Unfallversicherungsträgern akzeptiert werden und vor Gericht bestehen. Nun zeigen Studien unter Federführung des BG Klinikums Hamburg und des IfADo, dass die Unterbrechung des Rückenmarks Auslöser für die Entstehung von Harnblasenkrebs ist. Denn die Harnblasentumoren von Querschnittpatienten unterscheiden sich erheblich von denen nicht-gelähmter Personen.

Unterschiede bei Querschnittgelähmten

Das geht auch aus dem auf der Tagung der Internationalen Rückenmarksgesellschaft ausgezeichneten Poster hervor: Daten von 7.004 Querschnittgelähmten des Querschnittgelähmten-Zentrums am BG Klinikum Hamburg wurden dafür zwischen 1998 und 2018 erhoben. 37 Personen erkrankten davon an Harnblasenkrebs. Anschließend wurden die Daten mit denen für die deutsche Bevölkerung des Zentrums für Krebsregisterdaten beim Robert-Koch-Institut verglichen. Dabei fiel unter anderem auf, dass die 37 Querschnittgelähmten zum Zeitpunkt der Diagnose Harnblasenkrebs im Schnitt rund 20 Jahre jünger waren als die Allgemeinbevölkerung. Diese Vorverlagerung der Diagnose bei Querschnittgelähmten zeigte sich bereits in früheren Studien. Zudem erkrankten Gelähmte signifikant häufiger als nicht-gelähmte Personen an Tumoren, die bereits in die Muskulatur der Blase eingewachsen sind. Diese invasive Tumorvariante ist aggressiver als oberflächliche Tumoren.

„Diese Unterschiede verkürzen die Überlebenszeit der Betroffenen drastisch. 56 Prozent der Betroffenen in der Studie am Hamburger Querschnittgelähmten-Zentrum waren anderthalb Jahre nach der Krebsdiagnose verstorben. 80 Prozent der Nicht-Gelähmten waren hingegen fünf Jahre nach der Krebsdiagnose am Leben, wie wir aus der Literatur wissen. Das macht deutlich, warum mögliche Entschädigungszahlungen der GVU für die nächsten Angehörigen so relevant sind“, sagt Mitautor Prof. Dr. Klaus Golka vom IfADo. Diese und weitere Erkenntnisse haben die Autoren Anfang 2019 in einer Bewertungsmatrix zusammengefasst: Gutachter, Träger der GUV und Sozialgerichte erhalten damit Anhaltspunkte zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs auf Basis des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes.

Unabhängige Einflussfaktoren müssen abgewogen werden

Die Forschung in diesem Bereich ist jedoch nicht abgeschlossen. Denn die Forschenden wissen noch nicht, welche Mechanismen letztendlich dazu führen, dass Betroffene viele Jahre nach einer Querschnittlähmung an Harnblasenkrebs erkranken. Zudem müssen in der Einzelfallentscheidung die von der Querschnittlähmung unabhängigen Einflussfaktoren beachtet werden: Dazu zählen Aspekte wie Tabakrauchen, die Gabe von bestimmten Krebsmedikamenten oder Bestrahlungstherapien bei Gebärmutterkrebs. Wird der Urin über viel Jahre mit einem Dauerkatheter abgeleitet, gilt dies auch als ein Risikofaktor für die Entstehung eines Harnblasenkarzinoms. In der nun ausgezeichneten Studie spielten jedoch die Katheter kaum eine Rolle.

Der Posterpreis wurde während des „58. International Spinal Cord Society (ISCoS) Annual Scientific Meeting” (05. bis 07. November 2019) in Nizza verliehen. Zu den Posterautoren zählen Expertinnen und Experten der Abteilung Neuro-Urologie und des Querschnittgelähmten-Zentrum des BG Klinikums Hamburg, der Zentralklinik Bad Berka, des Krankenhauses St. Franziskus in Mönchengladbach, einer Praxis in St. Augustin, der Johannesbad Fachklinik in Bad Füssing, der Asklepios Klinik Barmbek Hamburg sowie des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo).

Originalpublikation:

Auswahl zugrundeliegender Originalpublikationen:
Böthig, R. et al. (2017): Clinical characteristics of bladder cancer in patients with spinal cord injury. The experience from a single centre. Int Urol Nephrol 49:983-994. doi: 10.1007/s11255-017-1570-6.

Böthig, R. et al. (2019): Ursachenzusammenhang zwischen langjähriger Querschnittlähmung und malignen Harnblasentumoren. Trauma und Berufskrankheiten. doi: 10.1007/s10039-019-0412-4

Quelle: Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund

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