Dranginkontinenz: Schnelle Hilfe für ein mehr als dringliches Problem

Menschen, die von Dranginkontinenz betroffen sind, sind in ihrem Alltagsleben extrem eingeschränkt. Sie verspüren einen Harndrang, der oft so intensiv ist, dass sich die Blase entleert bevor die Toilette erreicht werden kann. Typisch für Dranginkontinenz ist, dass sich der komplette Blaseninhalt auf einmal entleert.

Geschichte aus der Praxis:

„Valentina freute sich auf einen Nachmittag im Einkaufscenter. Sie hatte sich mit einer Freundin zum Kaffee und zu einem Schaufensterbummel verabredet. Obwohl die 62-jährige seit 20 Jahren an Diabetes litt, hatte sie die Krankheit gut im Griff und wurde im Alltag kaum davon beeinträchtigt. So genoss sie auch diesmal die Einkaufstour. Nach einer Stunde kehrten sie in einem Kaffeehaus ein, tranken zwei Tassen Kaffee und aßen ein Stück Kuchen. Als sie die Einkaufstour fortsetzten, verspürte Valentina einen leichten Harndrang, der jedoch relativ schnell wieder verschwand.
Nachdem sie sich von ihrer Freundin verabschiedet hatte und an der Bushaltestelle wartete, kehrte der Harndrang unvermittelt zurück. Inmitten der vielen wartenden Menschen, wurde sie sich plötzlich und entsetzt bewusst, dass Harn ihre Beine herablief. Um Ihre Schuhe bildete sich deutlich sichtbar ein nasser Fleck. Valentina presste ihre Beine zusammen, um das Missgeschick so gut es geht zu verbergen, und wünschte sich, dass sich der Boden unter ihr auftue. Die Peinlichkeit der Situation war unerträglich. Und Valentina überlegte fieberhaft, wie sie aus dieser Situation herauskommen könnte und auch, wie sie nach Hause kommen sollte. Sie konnte ja nicht einmal ein Taxi nehmen, ohne den Sitz nass zu machen.“

Sofort professionelle Hilfe suchen

Viele von Dranginkontinenz betroffene sind sich nicht bewusst, dass sie nach der ersten Inkontinenzepisode sofort professionelle Hilfe aufsuchen sollten. Ihr Schamgefühl ist so stark ausgeprägt, dass sie ihr Leben komplett nach ihrem „Problem“ ausrichten. Es erfüllt sie sogar mit Stolz, wenn sie es schaffen, alles halbwegs gut und selbstständig zu meistern.
Trotz deutlicher Anzeichen, wie übel riechender dunkler Harn, suchen viele keine ärztliche Hilfe auf. Sie entwickeln eigene Strategien um ihr Problem so gut es geht in den Griff zu bekommen. Ich habe in vielen Beratungen erfahren, dass Betroffene so völlig unnötig viele Jahre mit dieser belastenden Situation gelebt haben.

Paradoxe Konsequenzen

Dranginkontinenz-Betroffene, die sich aus Scham selbst helfen wollen, unterliegen oft dem Irrtum, scheinbar logische Schlussfolgerungen auf ihr tägliches Leiden anzuwenden. Eine der ersten Maßnahmen, die Betroffenen in den Sinn kommen, ist eine Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr. Frei nach dem (an sich logischen) Grundsatz: Je weniger „oben“ hineinkommt, desto weniger kommt „unten“ heraus. Fatalerweise kann jedoch eine geringere Flüssigkeitszufuhr bei der Dranginkontinenz das Problem verstärken.
Die Harnblase ist für Bakterien ein „Schlaraffenland“: In der warmen, dunklen und feuchten Umgebung, die durch die verschiedenen Harninhaltstoffe auch genügend Nahrung bietet, können sich Keime optimal vermehren. Durch verringerte Flüssigkeitsaufnahme wird der Harn konzentrierter (erkennbar an der dunkleren Farbe) und enthält dadurch auch mehr Inhaltsstoffe. Die Folge: Noch schnelleres Wachstum der Bakterien. Ist eine gewisse Anzahl erreicht, sorgt eine Blasenentzündung für einen noch stärkeren Harndrang und für Schmerzen.
Wer also an einer, durch eine neurologische Störung, hervorgerufenen Dranginkontinenz leidet und wenig trinkt, hat große Chancen, auch noch an einer Blasenentzündung zu erkranken – und sich damit einen zweiten Aspekt für diese Inkontinenzart (Erkrankung in der Blase oder Überempfindlichkeit der Blase) „anzuzüchten“.

Eine fachärztliche Abklärung ist unumgänglich

Nach der genauen Diagnosestellung und dem gezielten Einsatz durch Medikamente, gibt es viele begleitende Kontinenz fördernde ­Maßnahmen.

Diese sind aber erst nach genauer…
• Einschätzung der physischen Fähigkeiten
• Einschätzung der mentalen Fähigkeiten
• Überprüfung der Umgebungsfaktoren
• Einschätzung psychosozialer Faktoren
…von Betroffenen möglich

Das Miktionsprotokoll

Ist ein unverzichtbares Instrument, um professionelle Kontinenz fördernde Maßnahmen durchzuführen.
Vermerkt wird die Uhrzeit der Flüssigkeitsaufnahme, die Flüssigkeitsmenge und die Art der Flüssigkeit (z. B. Kaffee, Tee oder Wasser). Weiterhin die Uhrzeit der Ausscheidung, die Harnmenge die spontan ausgeschieden werden kann, sowie das Auftreten eines Harndrangs. Auch die Flüssigkeitsmenge, die über ein Hilfsmittel aufgefangen wurde (Vorlagengewichtstest), ist eine wichtige Information für den behandelnden Arzt.

WichtigDie Patienten sollen sich niemals mit Fantasiezahlen behelfen, um Getrunkenes oder Ausgeschiedenes zu dokumentieren. Dieser Kniff könnte große Auswirkungen auf die Diagnosestellung haben! Falls Sie zu oft das Eintragen vergessen, ist es ratsamer, den Versuch abzubrechen und an einem anderen Tag ein neues Protokoll zu beginnen.

Praktische Tipps für das Miktionsprotokoll

  • Setzen Sie jene Tage, in denen Sie das Protokoll führen wollen, überlegt an. Diese Tage sollten Sie nach Möglichkeit zu Hause verbringen.
  • Bereiten Sie die Tages-Trinkmenge in einem ein oder zwei Liter Gefäß zu, damit Sie genau dokumentieren können, welche Mengen Sie getrunken haben.
  • Ermitteln Sie einmalig das Fassungsvermögen Ihrer Kaffee- und Teetassen, um Trinkmengen richtig zu dokumentieren.
  • Bereiten Sie eine Kanne mit Messskala vor, um die Menge der Ausscheidung exakt messen zu können. Stellen Sie die Kanne in die Toilette und urinieren sie ausschließlich in dieses Gefäß.
  • Legen Sie das Protokoll offen und sichtbar mit einem Schreibgerät an eine prominente Stelle in der Wohnung.
  • Bereiten Sie drei oder vier A4-Zettel mit der Info „Heute Protokoll! “ vor und befestigen Sie diese gut sichtbar in der Toilette, in der Küche, im Wohnzimmer bzw. überall dort, wo Sie sich am Tag der Protokollführung aufhalten.

Mit dieser Vorbereitung sollte eine durchgehende Führung des Protokolls kein Problem sein.

Toilettengang zu festgelegten Zeiten

Achten Sie auf eine regelmäßige Entleerung der Blase zu festgelegten Zeiten, zum Beispiel zwei- oder dreistündlich. Das zugrunde liegende Ziel ist in erster Linie die Vermeidung von inkontinenten Episoden. Bei Betroffenen führt schon der kleinste Erfolg zur Motivations­steigerung.
Bei dieser passiven Form des ­Toilettentrainings initiiert eine Pflegeperson oder die Betroffene selbst den Toilettengang nach genauen Vorgaben eines festen Ausscheidungsplanes. Um die Blasenkapazität nicht zu verringern wird diese Form nur über sehr kurze Zeit durchgeführt und geht in ein Blasentraining über.

Das Blasentraining

Ist eine Form der Verhaltenstherapie, die sich die Prinzipien des Konditionierens zu Nutze macht. Die Ziele liegen im Wesentlichen darin, falsche Ausscheidungsgewohnheiten, die sich durch ein zu häufiges Aufsuchen der Toilette zeigen, zu korrigieren, die Blasenkapazität zu erhöhen und die Fähigkeit, den Harndrang zu verdrängen zu verbessern, um insgesamt die Ausscheidungsintervalle der Betroffenen auf drei bis vier Stunden zu erhöhen.
Dabei sollen Betroffene versuchen, den Harndrang bis zu zehn Minuten lang zu unterdrücken (Bauchatmung, Kontrahieren des Beckenbodenmuskels) und erst dann die Toilette aufsuchen. Die zeitlichen Intervalle werden in Folge weiter gesteigert.

Das Blasentraining sollte immer unter Begleitung einer geschulten Pflegeperson durchgeführt werden. Wichtig dabei sind genaue Aufzeichnungen im Miktionsprotokoll. Das genaue Dokumentieren zeigt jeden kleinen Erfolg an und steigert die Motivation. Ein Blasentraining erfordert sehr viel Arbeit, Ausdauer der Betroffenen und viel Unterstützung der begleitenden Pflegeperson.
Nur durch solche Maßnahmen kann das quälende und oft heimliche Leiden von Dranginkontinenz-Betroffenen gelindert werden. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit von Pflege und Ärzteschaft besonders wichtig. Mit Professionalität und Empathie lassen sich hervorragende Erfolge erzielen.

 

Buchtipp

Wenn Blase und Darm nicht mehr halten, was sie versprechen - Inkontinenz und was man dagegen tun kann - das Buch, das etwas verändert!

Gisele Schön, Marco Seltenreich
Facultas / Maudrich 2017
ISBN 978-3-85175-967-9
19,90 Euro, 2. Auflage
232 Seiten, Taschenbuch

Wenn Blase oder Darm nicht mehr das tun, was sie sollten, verändert sich für Betroffene das Leben vollkommen. Rund sieben Millionen Menschen sind im deutschsprachigen Raum mit dieser Situation konfrontiert – darunter auch viele junge Menschen, Mütter sowie Patientinnen und Patienten, die als Folge eines Unfalls oder einer Krankheit plötzlich Harn oder Stuhl verlieren. Doch das muss nicht sein: Inkontinenz ist behandelbar und sehr oft vollständig heilbar.
Dieser Ratgeber erklärt verständlich und nachvollziehbar die verschiedenen Arten der Inkontinenz und bietet einen Überblick über bewährte Behandlungsmethoden. Wertvolle Tipps zur Früherkennung und Hinweise zum Umgang mit der Erkrankung helfen, den ersten Schritt zu tun.

 

 

 

 

Empfehlungen vom Facharzt

  • Das Tragen von leicht zu öffnender (Klettverschluss), nicht einengender Kleidung
  • Ein gut platziertes Zimmer-WC in der Wohnung (erleichtert den schnellen Toilettengang)
  • Die Verwendung passender Inkontinenzeinlagen
  • Eine Steigerung der täglichen Trinkmenge auf zwei Liter. Dabei ist Folgendes zu bedenken: Wenn eine Patientin über viele Jahre tgl. nur 500 ml getrunken hat, ist sie nicht in der Lage plötzlich die vierfache Menge zu bewältigen. Steigern Sie die Trinkmenge daher langsam. Bei fehlendem Durstgefühl kann man durch Nahrungsmittel (z. B. frischen Knoblauch auf ein Butterbrot oder Pfeffer als Gabelfrühstück) Durst erzeugen. Nur abends sollte die Flüssigkeitszufuhr eingeschränkt werden (Kaffee, Tee und Alkohol aufgrund der Reiz auslösenden Wirkung meiden)
  • Geben Sie Betroffenen die Möglichkeit, jederzeit bei Unklarheiten nachzufragen

Unterstützung und Informationen dazu erhält man bei der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) und bei der Kontinenz- und Stomaberatung Österreich (KSB):

www.kontinenzgesellschaft.at
www.kontinenz-stoma.at

 

 

Gisele Schön Wien
Kontinenz­beraterin

E-Mail:
wagisch@aon.at

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