Kollektive Intelligenz kann helfen, medizinische Fehldiagnosen zu reduzieren

Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des Institute for Cognitive Sciences and Technologies (ISTC) und der Norwegian University of Science and Technology haben einen auf kollektiver Intelligenz basierenden Ansatz entwickelt, um die Genauigkeit medizinischer Diagnosen zu erhöhen.

Zitierweise: HAUT 2024;35(1):15.

In den USA sterben jedes Jahr schätzungsweise 250.000 Menschen an vermeidbaren medizinischen Fehlern. Viele dieser Fehler entstehen während des Diagnoseprozesses. Ein wirksamer Ansatz zur Erhöhung der Diagnosegenauigkeit besteht darin, die Diagnosen mehrerer Diagnostiker zu einer gemeinsamen Lösung zu kombinieren. In der allgemeinen medizinischen Diagnostik fehlt es jedoch an Methoden, um unabhängige Diagnosen zusammenzufassen. Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des Institute for Cognitive Sciences and Technologies (ISTC) und der Norwegian University of Science and Technology stellen eine voll­automatisierte Lösung vor, die Methoden des Knowledge Engineering nutzt.

„Lebensrettendes Potenzial ­kollektiver Intelligenz“

Sie testeten ihre Lösung an 1.333 medizinischen Fällen, die vom The Human Diagnosis Project (Human Dx) zur Verfügung gestellt wurden, wobei jeder Fall von zehn Diagnostikern unabhängig begutachtet wurde. Die kollektive Lösung erhöhte die Diagnosegenauigkeit erheblich: Einzelne Diagnostiker erreichten eine durchschnittliche Genauigkeit von 46 %. Die Zusammenführung der Entscheidungen von zehn Diagnostikern erhöhte diese auf durchschnittlich 76 %. Die Verbesserungen traten über alle medizinischen Fachgebiete, Hauptbeschwerden und Erfahrungsstufen der Diagnostiker hinweg auf. „Unsere Ergebnisse zeigen das lebensrettende Potenzial von kollektiver Intelligenz”, sagt Erstautor Ralf Kurvers.

Verzerrungen durch Automation vermieden

Es ist erwiesen, dass kollektive Intelligenz die Entscheidungsgenauigkeit in vielen Bereichen erhöht, z. B. bei geopolitischen Prognosen, Investitionen und Diagnosen in der Radiologie oder Dermatologie2. Allerdings wurde die kollektive Intelligenz bisher meist auf relativ einfache Entscheidungsaufgaben angewandt. Anwendungen für komplexere Aufgaben, wie Notfallmanagement oder allgemeine medizinische Diagnostik, fehlen weitgehend, da es schwierig ist, nicht standardisierte Eingaben von verschiedenen Personen zu integrieren. Um diese Hürde zu überwinden, haben die Forschenden in ihrer Anwendung semantische Wissensgraphen, natürliche Sprachverarbeitung und die medizinische Ontologie SNOMED CT – eine umfassende, mehrsprachige klinische Terminologie – zur Standardisierung eingesetzt.

„Ein wesentlicher Beitrag unserer Arbeit besteht darin, dass die von Menschen erstellten Diagnosen zwar ihre Vorrangstellung behalten, unsere Aggregations- und Bewertungsverfahren jedoch vollständig automatisiert sind, wodurch mögliche Verzerrungen bei der Erstellung der endgültigen Lösung vermieden werden und eine höhere Zeit- und Kosteneffizienz möglich ist“, fügt Mitautor Vito Trianni hinzu.

Die Forschenden arbeiten derzeit – zusammen mit anderen Partnerinnen und Partnern – im Rahmen des HACID-Projekts daran, ihre Anwendung dem Markt einen Schritt näher zu bringen. Im Rahmen des von der EU finanzierten Projekts wird ein neuer Ansatz erforscht, der menschliche Expertinnen und Experten und KI-gestützte Wissensrepräsentation und automatisierte Schlussfolgerungen zusammenbringt, um neue Werkzeuge für die Entscheidungsfindung in verschiedenen Bereichen zu schaffen. Die Anwendung der HACID-Technologie auf die medizinische Diagnostik stellt eine der vielen Möglichkeiten dar, wie von einem digitalisierten Gesundheitssystem und zugänglichen Daten profitiert werden kann.

Originalpublikationen

1. Kurvers, RHJM, Nuzzolese AG, Russo A et al.Automating hybrid collective intelligence in open-ended medical diagnostics. PNAS 2023;120(34): Article e2221473120. https://doi.org/10.1073/pnas.2221473120 

2. Kurvers RHJM, Herzog SM, Hertwig R et al. Boosting medical diagnostics by pooling independent judgments. PNAS 2016;113(31):8777-8782. https://doi.org/10.1073/pnas.1601827113

Quelle: Nicole Siller, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

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