Die künftige Rolle des Arztes in der digitalen Gesellschaft

Nicht erst nach dem fünften Patienten mit Smart Watch merken Deutschlands Ärzte, dass Veränderung in der Luft liegt. Patienten informieren sich zu Symptomen, Behandlungsoptionen und benutzen digitale Gesundheits-Anwendungen, während sie selbst so manches Mal mit der Zahl an digitalen Werkzeugen überfordert sind. Doch der rasante Wandel in der Gesellschaft zwingt mehr denn je, am Ball zu bleiben.

Mit dem Fortschritt der Technologien, die Patienten und Leistungserbringern zur Verfügung stehen, verändern sich auch ihre Rollen. Heute sind Patienten mündiger als je zuvor, denn ihnen stehen viele Informationen auf Portalen im Internet zur Verfügung. Durch Hardware und Applikation können sie ihren Gesundheitszustand überwachen, Mobiltelefone werden zu medizinischen Hightech-Werkzeugen und ermöglichen eine lückenlose Analyse aller überprüften Messdaten. Im Zuge dessen sinkt die Abhängigkeit der Patienten vom Arzt, die Rolle des Arztes wird zunehmend passiver und beratender.

Vom Arzt zum Medizintechnologen

Dr. Jens Baas, Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse, prognostiziert schon heute, „dass es in fünf bis zehn Jahren für Ärzte als Behandlungsfehler gelten wird, eine Diagnose zu stellen, ohne ein Expertensystem zu konsultieren“.1 Doch die Hürden sind groß. Nicht vorhandene Schnittstellen zu bestehenden IT-Systemen und regulatorische Voraussetzungen erschweren es, von den technischen Errungenschaften zu profitieren und sie sinnvoll einzusetzen.

Technische Weiterbildung

Auch den Ärzten selbst fehlt häufig das Know-how, um mit neu entstehenden Technologien umzugehen und diese anzuwenden. Zum einen reagiert die Ausbildung nur langsam auf die Notwendigkeiten der Realität. Zum anderen fehlt es aber auch an der nötigen Motivation, technische Weiterbildungen zu besuchen und abzuschließen. Dabei können Ärzte von Technik in der Medizin und in der Praxis profitieren. Gezielte Nutzung von Technik kann ihre Arbeit erleichtern und effizienter gestalten.

Von Reaktion zu Prävention

Heute verdienen Niedergelassene ihr Geld noch immer vor allem mit Behandlung und Diagnose. Durch neue technische Möglichkeiten werden andere Teile der Wertschöpfungskette, wie Prävention, von ganz anderen Akteuren bedient. Die vorher noch exklusive ärztliche Beratung gehört zunehmend der Vergangenheit an. Das Start-up Ada etwa ermöglicht eine Diagnose vor dem ersten Gang zum Arzt – durchgeführt vom Patienten selbst. Dafür stellt ein Chatbot* Fragen und schränkt so Krankheitsbilder ein, gibt dem Patienten eine vorläufige Diagnose und empfiehlt infrage kommende zuständige Ärzte, die der Patient aufsuchen sollte.

* Ein Chatbot ist ein Dialogsystem, das es dem Internetnutzer erlaubt sich mit einem technischen System zu unterhalten.


Prävention wird auch aufgrund der hohen Kosten des Gesundheitswesens zunehmend wichtiger. Im Idealfall können teure Behandlungen durch verändertes, gesünderes Verhalten frühzeitig verhindert werden. Das verändert auch die Rolle Niedergelassener. Sie dürfen nicht mehr nur Behandler sein, sondern müssen zunehmend in die Rolle des Beraters schlüpfen, der Patienten in diesem Umbruch des Gesundheitswesens unterstützt.

Die Aufgabenbereiche erweitern sich entsprechend. Künftig gilt es nicht mehr nur, reaktiv zu behandeln. Ärzte können ihren Patienten helfen, Prävention und proaktives Verhalten zur Gewohnheit werden zu lassen. Mit einer solchen Herangehensweise könnte der heutige Einfluss von Ärzten in Zukunft sogar ausgebaut werden. Nicht nur das: Es bietet sich eine echte Chance, das Verhalten der Bevölkerung maßgeblich und langfristig zum Positiven zu verbessern.

Sekundärprävention ausbauen

Auch post-operative Prävention, sogenannte Sekundärprävention, die an Operationen oder Krankheit anschließt, sollte ausgebaut werden. So können Vorteile entsstehen: Zum Beispiel könnten vormals Herzkranke so nach ihrem Genesungsprozess erneute Erkrankungen vermeiden und Krankenkassen reduzieren langfristig ihre Kosten. Wenn Patienten vermehrt Prävention betreiben, kann die Arbeitslast des Arztes reduziert werden und die Behandlungszeit pro Patient nimmt zu.

Therapie-Begleiter

Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist heute vor allem durch zwei Punkte geprägt. Das bestehende Vergütungssystem im deutschen Gesundheitswesen setzt einerseits Anreize für Ärzte, die sich auf die Diagnose und die Bestimmung der dazu passenden Leistungen beschränken. Die Vergütungslogik führt gleichzeitig dazu, dass Ärzte nicht genügend Zeit für ihre Patienten haben. Das geht auf Kosten der Behandlungsqualität.

Was heißt das konkret für den Alltag?

In einer idealen Welt kann der Arzt die Bedürfnisse des Patienten und die Motive für sein Handeln frühzeitig verstehen, um dann gemeinsam mit ihm Lösungen zu erarbeiten. Bisher fällt es so manchem schwer zu akzeptieren, dass ihre Patienten immer selbstständiger werden. Patientenzentriertes Arbeiten bedeutet deshalb auch, die Kollaboration mit dem Patienten bewusst und offen zu suchen, dessen Bedürfnisse zu verstehen und direkt mit dem Menschen zu arbeiten. Das kommt nicht nur den Patienten zugute.

Laut einer Studie2 der Bitkom lernten 51 % der befragten Ärzte nach eigenen Angaben durch den Austausch mit ihren gut informierten Patienten selbst dazu. Wie die bisherige Pflicht der ärztlichen Fortbildung (erstmals in 2004 gesetzlich zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenkasse eingeführt), ist auch diese neue Form des Austauschs – so gewöhnungsbedürftig er ist – eine Möglichkeit zu lernen. Der Wandel von einer einmaligen Ausbildung zu lebenslangem Lernen hat den Gesundheitssektor also längst ergriffen.

Strukturelle Veränderung

Veränderung beginnt beim Individuum, muss aber auch strukturell angegangen werden. Dieser individuelle Drang zur Veränderung muss aber auch systemisch übergreifen, wenn er langfristig erfolgreich sein soll. Strukturelle Veränderung ist deshalb eine weitere Stellschraube der „Gesundheits­maschine“.

Beispiele für eine integrierte Versorgung gibt es schon heute:

1. Kaiser Permanente in den USA z. B. setzt bereits seit 1945 auf einen Hybrid-Ansatz aus nicht gewinn­orientierter Krankenkasse und Gesundheitsdienstleister. Durch Kollaboration schließen sich hier verschiedene Akteure wie Sportvereine, Arbeitgeber, Familien und Angestellte im gesamten Ökosystem zusammen, um Gesundheit gemeinsam weiterzudenken und ein auf Prävention setzendes System voranzutreiben. Als bahnbrechend lässt sich die Vergütungsstruktur beschreiben: Durch das Anstellungsverhältnis werden Anreize für Ärzte neu gesetzt, sodass mehr Zeit für Patienten eingeräumt werden kann. Das kann die Behandlung entschleunigen und das Erlebnis der Patienten verbessern.

2. Aber auch in Deutschland gibt es Erfolgsgeschichten, bei denen das Gesundheitssystem fortschrittlich und ganzheitlich betrachtet wird. 60 Jahre nach dem amerikanischen Pendant verfolgt seit 2005 das Pilotprojekt „Das Gesunde Kinzigtal“ in Baden-Württemberg einen ähnlichen Ansatz. Verknüpft mit den Krankenkassen, darunter AOK und LKK, wird hier über die Gesundheit als reine Dienstleistung hinausgedacht und echter Mehrwert für Leistungsempfänger geschaffen. Ziel ist es, eine mögliche alternative Zukunft der Gesundheitsversorgung zu entwickeln.

Was können Ärzte heute tun?Drei Maßnahmen können heute schon ergriffen werden, um sich für die Zukunft zu positionieren und sie mitzugestalten:

1. Es existieren bereits Strukturen zum Austausch der Akteure, wie beispielsweise der Health Innovation Hub des Bundesministeriums für Gesundheit. Solche Angebote zu nutzen und aktiv eine Rolle zu spielen und zum Pionier zu werden, kann helfen, die eigene Position zu festigen. Wie das aussehen kann, zeigt sich auch am Beispiel des Ärztlichen Kreisvereins in Aschaffenburg, der sich als Vorreiter im Gesundheitswesen positionieren möchte. Berliner Zahnärzte haben das schon vor langem verstanden und eine enge Kooperation mit Kindergärten vorangetrieben. Das ist gelebte Prävention und lehrt gesundes Verhalten schon im Kindesalter.

2. Einen Einstiegspunkt auf der Reise zum Medizintechnologen bieten beispielsweise der Android Play Store oder der Apple App Store. Hier kann man sich einen Überblick verschaffen, welche Applikationen genutzt werden. Zusätzliche Informationen liefern Krankenkassen, die über aktuelles Wissen zu begehrten Gesundheitskursen verfügen.

3. Ärzte können auch die Gesundheit ihrer Patienten proaktiver angehen. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Patienten steht hier im Fokus. Individuelle Lösungen für Beschwerden können nur gegeben werden, wenn generelles Verhalten verstanden wird. Ein aktiverer direkter Austausch mit den Patienten, die Entwicklung von persönlichen Gesundheitszielen und deren regelmäßige Messung können und sollten so zur Norm werden.

 

1 www.focus.de/magazin/archiv/wissen-dann-gestaltet-eine-handvoll-konzerne-das-gesundheitswesen_id_11165032.html

2 Bitkom e.V., Digital Health: Ärzte sind offen für die digitale Zukunft der Medizin
www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Aerzte-sind-offen-fuer-die-digitale-Zukunft-der-Medizin.html

Paul Amler
Studierter Volkswirt, er macht Strategieberatung bei TLGG Consulting mit Fokus auf die Gesundheitsbranche.

paulamler@tlgg.de

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