Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) – häufig Ursache für therapieresistente Symptome in der Allgemeinarztpraxis
Die CMD als Beschwerdebild und Überbegriff für zahlreiche Diagnosen ist auf dem besten Wege, eine Volkskrankheit zu werden. Je nach Design kommen Studien auf eine Prävalenz von drei bis 40 % Betroffener in Deutschland mit einem Frauenanteil von 75 %. Untersuchung und Diagnose sind aufwendig, können jedoch auch bereits im hausärztlichen Bereich angestoßen bzw. verifiziert werden.
Die CMD zählt zu den funktionellen Körperbeschwerden und ist damit ein Krankheitsbild, bei dem die genaue Anamnese, Untersuchung und Diagnose generell komplex und zeitaufwendig ist. Denn die Symptome treten meist nicht in dem Bereich auf, in dem auch die pathologischen Befunde zu finden sind.
Von großer Bedeutung ist in der Praxis das Erkennen möglicher Auslöser wie Stress und Überlastung, aber auch depressiver Verstimmungen und psychischer Traumata, da sich die Therapie und Prognose je nach Ursache teilweise gravierend unterscheiden kann. In seltenen Fällen sind iatrogene Ursachen, wie Bissstörungen durch vorausgehende zahnärztliche oder kieferorthopädische Therapien, als Auslöser zu eruieren.
Die Liste der potenziellen Symptome einer unbehandelten CMD scheint unendlich lang zu sein. Am häufigsten sind Myalgien im Kaumuskelbereich, die bei 80 % der Patienten mit Nackenschmerzen assoziiert sind und ohne Präsenz von Kaumuskelschmerzen außerhalb der Palpation auftreten. Diese ziehen dann oft vom Nacken über den Hinterkopf in den temporofrontalen Bereich und verursachen dort Kopfschmerzen.
Typisch sind auch Gesichtsschmerzen als projizierte Schmerzen von Triggerpunkten in der Kaumuskulatur. Auch profitiert ungefähr jeder achte Tinnituspatient von einer frühzeitigen Funktionstherapie und sehr häufig verschwinden Augenbeschwerden wie Doppelbilder, Flimmern, dumpfe Augenhintergrundschmerzen und Lichtempfindlichkeit durch den positiven Effekt der Funktionstherapie auf die hypertone Subokzipitalmuskulatur.
Viele dieser Symptome sind denen gängiger Erkrankungen zum Verwechseln ähnlich und werden daher oftmals fehlinterpretiert und infolgedessen erfolglos therapiert.
Muskuläre Funktionsketten und neuroanatomische Zusammenhänge, die die Formatio reticularis mit den Hirnnervenkernen heranziehen, sowie Triggerpunkte mit Schmerzprojektionen sind die gängigsten Modelle, um diesen Chamäleoneffekt zu erklären.
Triggerpunkte mit Schmerzprojektion
Umso wichtiger ist es für Ärztinnen und Ärzte, die in der niedergelassenen Praxis tätig sind, in der Lage zu sein, mit einem schnellen und einfachen Screening die Wahrscheinlichkeit einer CMD-Diagnose zu bestimmen.
Vorgehensweise:
- Palpieren sie mit einem Druck von ca. einem Kilogramm den M. Masseter und den anterioren Anteil des M. temporalis.
- Anschließend mit halber Kraft den Bereich der Gelenkkapseln im präaurikularen Bereich.
- Lassen Sie den Mund maximal weit öffnen und achten Sie dabei darauf, ob die Mittellinie der Unterkieferschneidezähne zur Seite abweicht.
- Fragen Sie den Patienten, ob er bei der Mundöffnung ein Knacken oder Knirschen hört.
- Lassen Sie den Patienten die aneinandergelegten Zeige-, Mittel- und Ringfinger senkrecht in den maximal weit geöffneten Mund schieben und überprüfen Sie, ob es ihm schwerfällt.
- Fragen Sie, ob morgens beim Aufwachen das Gefühl besteht, dass der Kiefer verspannt ist und/oder ob tagsüber häufig stärkerer Zahnkontakt besteht.
Sind zwei oder mehrere dieser Tests oder Antworten positiv, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine CMD vorliegt. In diesem Fall ist unbedingt ein zahnärztliches Konsil bei einem Zahnarzt mit funktionstherapeutischem Schwerpunkt, wie die CMD-Therapie in der Zahnarztpraxis genannt wird, zu empfehlen.
Relevanz des Krankheitsbildes für die hausärztliche Versorgung?
Da die Schmerzen und Symptome einer CMD selten in den auslösenden Strukturen auftreten, ist häufig die Hausarztpraxis die erste Anlaufstelle für diese Patientinnen und Patienten. Wird die CMD als mögliche Ursache erkannt und findet eine frühzeitige Empfehlung einer CMD-Abklärung durch einen funktionstherapeutisch tätigen Zahnarzt statt, kann oft eine Chronifizierung der Schmerzen und Beschwerden verhindert werden. Hier gilt wie so häufig, je eher desto besser.
Um nicht zu viel Zeit zu verlieren, ist es im Sinne einer effektiven Therapie sehr hilfreich, wenn durch den Hausarzt alle symptombezogen in Frage kommenden Fachrichtungen wie z. B. Neurologie, HNO, Orthopädie oder Augenheilkunde ebenfalls frühzeitig mit ins Boot geholt werden. So können idealerweise schon vor dem ersten zahnärztlichen Untersuchungstermin Ursachen aus diesen Bereichen ausgeschlossen werden und die Therapie einer CMD ohne Verzögerung auf den Weg gebracht werden.
Eigenübungen für den Kiefer und die Anleitung zur Selbstbeobachtung zur Vermeidung von jedem unnötigen Zahnkontakt außerhalb der Mahlzeiten sind sehr wirksame Therapieelemente, die immer bereits in der hausärztlichen Praxis auf den Weg gebracht werden können.
Diagnose-bzw. Therapiealgorithmus
Die in der Zahnarztpraxis gestellte Diagnose basiert auf einem international etablierten Diagnostiksystem namens DC/TMD (Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders) und bezieht die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung (Achse 1) und die Auswertung der psychosozialen Faktoren (Achse 2) ein. Nachfolgend einige mögliche Diagnosen:
Achse 1 (körperliche Diagnosen):
- Schmerzhafte Beschwerden im Bereich der Kaumuskulatur
- Anteriore Verlagerung des Discus articularis
- Arthralgie, aktivierte Arthrose, Arthrose
Achse 2 (psychosoziale Diagnosen)
- Schmerzbezogene Beeinträchtigungen täglicher Aktivitäten
- Depressive Verstimmung
- Unspezifische somatische Symptome
Die Funktionstherapie sollte im besten Fall immer diagnosebezogen erfolgen und neben den in der Zahnarztpraxis auf den Weg gebrachten Therapien, wie beispielsweise Aufbissschiene, manuelle Therapie, Triggerpunkttherapie, Akupunktur oder Botoxinjektionen auch immer andere ärztliche Disziplinen miteinbeziehen.
Vor allem sollte aber, wie bei allen anderen funktionellen Körperbeschwerden, die Selbstwirksamkeit der Patienten gestärkt werden. Dies können neben den elementaren Eigenübungen für den Kiefer und der Selbstbeobachtung zur Vermeidung von übermäßigem Zahnkontakt am Tage auch Atemübungen, Achtsamkeitstraining, Sport, Meditation, Yoga, Qi Gong, Autogenes Training oder progressive Muskelentspannung nach Jacobsen und vieles andere mehr sein.
Buchtipp |
CMD – Craniomandibuläre DysfunktionKiefer-, Kopf- und Nackenschmerzen: Wer morgens mit Kopf- oder Nackenschmerzen aufwacht, macht wohl als Erstes das Kopfkissen oder den Schreibtisch-Job dafür verantwortlich. Die wenigsten bringen ihre Beschwerden mit ihrem Kiefer in Verbindung. Und doch ist er oftmals der Verursacher: Etwa 30 % aller Deutschen sind mehr oder weniger stark von einer Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), einer Funktionsstörung des Kiefergelenks, betroffen. Dr. med. dent. Hamdi Kent hat ein ganzheitliches Konzept entwickelt, mit dem Betroffene ihre Beschwerden in den Griff bekommen können. Er stellt es im Ratgeber „CMD - Craniomandibuläre Dysfunktion“ (TRIAS Verlag, Stuttgart 2023) vor. Buchinhalte:
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