Ketamin: Ein neues Antidepressivum

Wenn bei depressiven Episoden Antidepressiva gegeben werden, die schnell aktivierend, aber spät antidepressiv wirken, kann es zu einer erhöhten Suizidgefahr kommen. Gleichzeitig werden langsam wirkende Antidepressiva von Patienten* oft frühzeitig selbst abgesetzt, da die erwartete Stimmungssteigerung vermeintlich nicht eintritt. Eine Lösung für diese Probleme bei der Behandlung sind sogenannte „Rapid acting antidepressants“ (RAADs), unter denen das in den USA und der EU zugelassene Ketamin ein Hoffnungsträger ist.

Depressionen beeinträchtigen den Lebensalltag von Betroffenen maßgeblich. International liegt das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken, bei 16 bis 20 %1 – keine zu vernachlässigende Erkrankung also.

Ursache: Monoamin-Mangel?

Die meisten der in Deutschland eingesetzten Antidepressiva wurden auf der Hypothese entwickelt, dass im Gehirn ein Mangel an den für die Reizweiterleitung unabdingbaren Neurotransmittern Serotonin, Dopamin und Noradrenalin vorliegt (Monoamin-Mangel-Hypothese). Hierdurch treten die für Depressionen bekannten Symptome wie allgemeine Verschlechterung der Stimmungslage und psychomotorische Verlangsamung, etc. auf. Die gängigen Antidepressiva erhöhen demnach die Verfügbarkeit der Monoamine im synaptischen Spalt von Neuronen und rufen somit eine gesteigerte Reizweiterleitung und schlussendlich eine verbesserte Stimmungslage hervor.2

Gängige Antidepressiva suboptimal

Die momentan genutzten Antidepressiva können jedoch als suboptimal beschrieben werden: Denn erstens spricht nur ein Teil der Patienten auf die herkömmlich genutzten Antidepressiva an.3 Zweitens benötigt es meist bis zu zwei (oder auch mehr) Wochen konstanter Medikamenteneinnahme, bis es zum tatsächlich spürbaren antidepressiven Wirkeintritt kommt. Da die therapeutisch angewendeten Substanzen außerdem einige negativ empfundene Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Schwindel, Kopfschmerz, Angstzustände, sexuelle oder kognitive Dysfunktionen auslösen können4, ist es nicht verwunderlich, dass es oft zu einem ungeplanten, verfrühten Absetzen der Medikamente seitens der Patienten kommt.

Des Weiteren kann bei Behandlung mit den bisherigen Antidepressiva zuerst eine physische Aktivitätssteigerung eintreten, bevor dann die angezielte psychische (antidepressive) Wirkung eintritt. Hierdurch erhöht sich die Suizidgefahr vor allem in den ersten Tagen nach Therapiebeginn maßgeblich.5,6 Es ist also verständlich, dass nach neuen Möglichkeiten für medikamentöse Therapien, nach neuen Präparaten und möglichen neuen Zielorten für Medikamente geforscht wird.

Das Glutamatsystem – Ein neuer Lösungsansatz

Eine solche Möglichkeit ist das eigentlich als Narkotikum eingesetzte Ketamin, das sich auf das mit der Stressachse assoziierte Glutamatsystem auswirkt. Es bietet somit einen innovativen Ansatzpunkt fernab der gängigen Hypothese.

Während Ketamin oft als Racemat, also einer Mischung aus den Enantiomeren (S)-Ketamin und (R)-Ketamin, verwendet wird, ist seit 2019 lediglich das reine (S)-Enantiomer (Esketamin) als intranasaler Wirkstoff von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA und von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) in der EU zur Behandlung der Depression zugelassen.7,27

Das Glutamatsystem kommt bei der komplexen Verarbeitungsleistung der Großhirnrinde ins Spiel: Diese ist nur dann möglich, wenn in den neuronalen Netzwerken Erregung und Hemmung ausbalanciert zusammenwirken. Beispielsweise stressvermittelt kann der Neurotransmitter Glutamat vermehrt an sogenannte NMDA-(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptoren (NMDAR) von GABAergen (Gamma-Aminobuttersäure freisetzenden) Interneuronen binden (siehe Abbildung unten). Als Teil des ausbalancierten Systems schütten diese GABAergen Interneuronen daraufhin den Neurotransmitter GABA aus und wirken so hemmend auf dahinter geschaltete Neuronen. Werden demnach GABAerge Interneuronen durch vermehrte Glutamatbindung aktiviert, wird ihre Aktivität und somit ihre Hemmleistung gesteigert – eine erhöhte Störung der Signalweiterleitung dahinter geschalteter Neuronen ist die Folge.

NMDA-Rezeptor-Antagonisten als neuer Medikamententypus

Ein solcher an den „falschen Orten“ auftretender Überschuss des Neurotransmitters Glutamat wird mittlerweile als Mitursache der Depression vermutet. Ein solcher Überschuss führt in kortikalen Bereichen zur Hemmung der Signalweiterleitung und kann in einer neuronalen Atrophie enden.9,10 Denn durch die geringere Aktivierung der nachfolgenden Neuronen über ihre AMPA-(Alpha-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropionsäure)-Rezeptoren (AMPAR) sinkt in ihnen die Bereitstellung des für die korrekte Nervenzellfunktion und für das Nervenzellwachstum essenziellen Wachstumsfaktors BDNF (brain-derived neurotrophic factor) – Atrophie ist die Folge.

In diesem Zusammenhang rückt Ketamin als NMDA-Rezeptor-Antagonist mehr und mehr in den Fokus der Forschenden. Als Antagonist wirkt Ketamin an den NMDA-Rezeptoren der GABAergen Interneuronen im präfrontalen Cortex, revidiert dort die erwähnte Hemmung und erhöht somit die Reizweiterleitung (für tiefergehende Erklärung siehe Kasten).

Ein paar Worte zur Wirksamkeit…

Zur sicheren Nutzung von Ketamin als Antidepressivum müssen auch dessen Wirksamkeit und mögliche Nebenwirkungen bedacht werden. Vorliegenden Daten zufolge hat Ketamin eine antidepressive Langzeit-Wirkung von durchschnittlich sieben bis zehn Tagen nach einmaliger Gabe10; in einzelnen Fällen wurde auch ein fortdauerndes Anhalten der Wirkung über zwei Wochen berichtet.11 Ein veröffentlichter Fallbericht deutet zwar eine mögliche Verlängerung der Wirksamkeit über mehrere Monate durch wiederholte Gabe von geringen Dosen an12, aufgrund der noch zu geringen Datenmenge kann jedoch derzeit hierzu keine sichere Aussage getroffen werden.

Der Höhepunkt der Wirksamkeit von Ketamin scheint Studien zufolge 24 Stunden nach einmaliger Gabe erreicht zu sein.3 Ein Grund hierfür ist die schnelle Verteilung des Wirkstoffes im Körper: Bereits innerhalb von zwei bis vier Minuten nach Verabreichung sank laut Studiendaten die Plasmakonzen­tration von Ketamin auf 50 % (Verteilungs-Halbwertszeit).13 Die Bioverfügbarkeit von Ketamin scheint bei oraler Gabe am geringsten zu sein. Intranasal aufgenommenes Ketamin besaß eine Bioverfügbarkeit von 45 %, intramuskulär verabreichtes Ketamin eine Bioverfügbarkeit von 93 %.13


 

Wie wirkt Ketamin?

Vereinfacht dargestellt spricht immer mehr für die Hypothese, dass Ketamin an GABAergen Interneuronen seine antidepressive Wirkung entfaltet (s. Abbildung): 
Durch antagonistische Besetzung des NMDA-Rezeptors an GABAergen Interneuronen (1) verdrängt Ketamin das bei Depression wohl im Überschuss vorhandene Glutamat und blockiert so die eigentlich hemmende Wirkung der Interneuronen (2, Durchkreuzung der roten Pfeile).10,25 Somit kommt es am nun nicht mehr herunterregulierten Neuron zu einem vorübergehenden (transienten) präsynaptischen Glutamat-Ausstoß (3, direkter ‚Minutes-To-Hours‘-Effekt). Durch darauffolgende postsynaptische Aktivierung der AMPA-Rezeptoren (4) wird neben der Reizweiterleitung auch die Expression und Freisetzung von BDNF aktiviert (5), was die Zelle zur sogenannten synaptischen Plastizität anregt (6).10,25 Synaptische Plastizität zeigt sich in morphologischen und physiologischen Veränderungen der Neuronen, wie beispielsweise wachsende synaptische Verzweigung (7) und eine erhöhte Bereitstellung von AMPA-Rezeptoren (8).26 Hiermit können die Neuronen als Folge auf ihre eigene Aktivierung die Effektivität ihrer Reizweiterleitung optimieren (positiver Feedback-Loop) – und Ketamin entfaltet so seine längerfristige antidepressive Wirkung (‚Days-to-Weeks‘).26


Zu Bedenken ist, dass die Wirksamkeit bei Patienten mit unterschiedlichen Subtypen der Depression unterschiedlich ausfallen könnte. So zeigte eine Metaanalyse, dass diese bei Patienten mit Unipolarer Depression für 7 Tage anhielt, bei Personen mit Bipolarer Depression jedoch bereits ab dem 4. Tag schwand.16

Während der antidepressive Effekt bei Ketamin also vergleichsweise schnell eintritt, sind Aussagen zu seiner „antisuizidalen“ Wirkung kaum zu treffen. Sie scheint bei hoher Suizidgefahr besonders ausgeprägt zu sein, beispielsweise bei Patienten mit schwerer Depression15,16; bei Patienten mit relativ milder Depression konnte hierzu noch keine Wirkung festgestellt werden.17 Hierbei sei erwähnt, dass in von der FDA herangezogenen Studien ebenso bei Esketamin-behandelten Patienten Suizide auftraten.18 Dass diese laut FDA schwerlich auf den Wirkstoff selbst zurückzuführen seien,18 wurde jedoch bereits kritisch hinterfragt und darauf verwiesen, dass weitere Studien und Risiko-Evaluationen hierzu dringend Klarheit schaffen müssten.19,20

… und zu Nebenwirkungen

Die in den USA und der EU zugelassene intranasale Einnahmeform des Ketamins zeigte in einer Studie mit kleiner Teilnehmerzahl (n=20) einen schnellen antidepressiven Wirkeintritt, für den bereits eine vergleichsweise geringe Dosis ausreichte und dessen Nebenwirkungen als minimal beschrieben wurden.21 Bei intranasalem (S)-Ketamin waren in Studien die meisten unerwünschten Ereignisse mild oder moderat und nur vorübergehend (Schwindel, Benommenheit, Übelkeit, erhöhter Blutdruck, etc.).21-23

Um Schutz zu gewährleisten, hat die EMA Esketamin lediglich per Verschreibung und unter direkter Aufsicht durch medizinisches Fachpersonal zugelassen.27 Die EU-Zulassung gilt in Kombination mit Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) oder Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRIs) bei Erwachsenen mit therapieresistenter Major Depression, die in der aktuellen mittelgradigen bis schweren depressiven Episode auf mindestens zwei unterschiedliche Therapien mit Antidepressiva nicht angesprochen haben.27 Unter diesen Voraussetzungen schätzt die EMA die Vorteile von Esketamin als die Risiken überwiegend ein.27

Gerade zu einer längeren und wiederholten Einnahme von Ketamin liegen jedoch noch wenig Daten vor. Somit können auch zu längerfristigen Nebenwirkungen keine finalen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Hoffnungsträger mit Fragezeichen

Bei Ketamin als Antidepressivum sind also noch einige Fragen offen: Gibt es eine Dosis-Abhängigkeit der Wirksamkeit, und wenn ja, welche? Kann die Bioverfüg­barkeit verbessert werden? Auch Ketamin-­Derivate könnten weitere Hoffnung geben (siehe Hinweis unten). Auch nach der Zulassung bleibt also Ketamin ein spannendes Feld für weitere Forschungen und Erkenntnisse.

► Ein Derivat des Keta­min-­Metaboliten Hydroxynorketamin (HNK) zeigte in Laborversuchen schon bei geringen Konzentrationen eine höhe Neuroplastizität als bei Ketamin selbst.24 Lesen Sie gerne hierzu unseren Artikel in unserer Ausgabe 10/22.


Julian Aldinger

 

Literatur

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DOI: 10.1016/S0140-6736(06)67964-6.
Lee S et al. Mol Brain (2010). DOI: 10.1186/1756-6606-3-8.
2 Corriger A et al. Drug Des. Devel. Ther. (2019).
3 DOI: 10.2147/DDDT.S221437.
4 Khawam AE et al. Cleve Clin J Med (2006).
DOI: 10.3949/ccjm.73.4.351.
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www.fda.gov/news-events/press-announcements/fda-approves-new-nasal-spray-medication-treatment-resistant-depression-available-only-certified, aufgerufen am 02.11.2022
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11 Coyle CM et al. Hum Psychopharmacol Clin Exp. (2015). DOI: 10.1002/hup.2475.
12 Blier P et al. Biol Psychiatry (2012).
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24 Weber H. Dissertation: Synthesis of arylcyclohexylamines and study of their pro-neuroplastic activity (2022).
25 Abdallah CG et al. Pharmacol Ther (2018).
DOI: 10.1016/j.pharmthera.2018.05.010.
26 Ignácio ZM et al. Br J Clin Pharmacol. (2016).
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27 www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/spravato, aufgerufen am 06.12.2022

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