Interview: Eine Anlaufstelle für Menschen, die durchs Raster fallen

Einfach so in einer Arztpraxis behandelt werden – das ist für manche Menschen nicht möglich. Weil ihnen Barrieren den Zugang zum regulären Gesundheitssystem verwehren. Für diese Menschen bietet die Organisation „Ärzte der Welt“ jetzt eine neue Anlaufstelle in Berlin-Lichtenberg. Wie der Praxisalltag dort aussieht und was geschehen muss, damit niemand durch das Raster des Gesundheitssystems fällt, berichtet Lola Besselink aus der open.med Ambulanz Berlin-Lichtenberg.

Lola Besselink 
Hausärztin in Weiter­bildung

HintergrundDa die offiziellen statistischen Erhebungen die Mehrheit der Betroffenen nicht erreicht, existieren keine belastbaren Zahlen dazu, wie viele Menschen in Deutschland ohne Krankenversicherung leben. Ärzte der Welt geht von mehreren Hunderttausend aus. Dazu gehören Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus oder Migrantinnen und Migranten aus anderen EU-Ländern, die keine sozialversicherte Arbeit haben. Aber auch viele deutsche Bürgerinnen und Bürger können benötigte medizinische Leistungen nicht in Anspruch nehmen, z. B. weil sie die Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlen können oder ihren Versichertenstatus verloren haben.

Frau Besselink, wer kommt in die open.med-Praxis? Können Sie Beispiele für „typische“ Patientengruppen und deren Beweggründe nennen? 

Besselink:

Aktuell kommen viele Vietnamesinnen und Vietnamesen ohne geregelten Aufenthaltsstatus zu uns. Menschen ohne Papiere haben einen gesetzlichen Anspruch auf medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Um in einer regulären Arztpraxis behandelt zu werden, müssten sie aber für die Kostenübername beim Sozialamt einen Behandlungsschein beantragen. Das Sozialamt ist wiederum gesetzlich verpflichtet, die Person bei der Ausländerbehörde zu melden. Betroffene können also ihr Recht de facto nicht wahrnehmen, weil sie eine Abschiebung fürchten müssen. 

Eine zweite Patientengruppe sind Geflüchtete und Asylsuchende, die noch keine Versicherungskarte haben. Aber auch deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger, die aus unterschiedlichen Gründen keine reguläre Arztpraxis aufsuchen können, kommen zu uns. Mir fällt zum Beispiel ein Anfang 30-jähriger Mann aus Kenia mit Typ-1-Diabetes ein, der kürzlich bei mir in Behandlung war. Ihm war schon zwei Wochen vor der Sprechstunde das Insulin ausgegangen, weil er es sich nicht mehr leisten konnte. Das kann lebensgefährlich sein.

Welchen Herausforderungen begegnen Sie im täglichen Umgang mit den Patienten?

Besselink:

Die Sprachbarriere ist eine große Herausforderung. Momentan müssen wir uns teilweise noch mit dem Google-Übersetzer behelfen. 

Außerdem suchen wir dringend nach Facharztpraxen, die mit uns kooperieren, da wir aktuell nur die allgemeinmedizinische Grundversorgung anbieten können. Wer interessiert ist, kann sich bei uns informieren.

Wie begegnen Sie der sprachlichen Barriere? Und was denken Sie, braucht es, um Fachärztinnen und -ärzte für die Arbeit in der open.med-Praxis zu gewinnen?

Besselink:

In Zukunft wird uns ein System zur Verfügung stehen, mit dem wir Dolmetscherinnen und Dolmetscher per Videokonferenz zuschalten können. In unserer mobilen Praxis, der „moving.clinic“, mit der wir von Juni 2022 bis Januar 2023 gemeinsam mit der studentischen Initiative „U-Aid“, dem IT-Anbieter „Cisco“, der „Deutschen Bahn“ und dem Charité-Projekt „Women for Women“ im Einsatz waren, haben wir mit einem Videodolmetscher-System gute Erfahrungen gemacht. 

Ich wünsche mir, dass alle Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit bekommen, Übersetzerinnen und Übersetzer zu ihren Konsultationen hinzuzuschalten. Außerdem wäre es wichtig, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte dafür vergütet werden, wenn sie Personen ohne Krankenversicherung behandeln. Das wäre ein Schritt in Richtung eines Systems, das unsere Praxis nicht mehr benötigt.

Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit Menschen – wie Ihre Patientinnen und Patienten – Teil der regulären Gesundheitsversorgung werden können?

Besselink:

Ärzte der Welt hat zahlreiche Forderungen an die Politik.2 Unter anderem fordern wir, dass Asylsuchende von Beginn ihres Aufenthaltes an Zugang zu Leistungen auf dem Niveau des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen bekommen. Außerdem fordern wir, dass die im Koalitionsvertrag bereits angekündigte Abschaffung der Pflicht zur Übermittlung der Daten von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus endlich umgesetzt wird. Zudem müssen alle Patientinnen und Patienten Zugang zu qualifizierter und bedarfsgerechter Sprachmittlung bekommen. 


Ärzte der Welt ist die deutsche Sektion der internationalen humanitären Organisation Médecins du Monde. Das Netzwerk setzt sich dafür ein, dass alle Menschen weltweit und in Deutschland ihr Recht auf Gesundheit geltend machen können. Dabei unterstützen sie mit medizinischer Hilfe und politischer Arbeit. open.med-Praxen gibt es derzeit auch in München und Hamburg. Das Angebot ist anonym und kostenlos.



1 Ärzte der Welt, www.aerztederwelt.org/mitarbeit-und-engagement/offene-stellen 

2 Die Gesamtheit der politischen Forderungen von Ärzte der Welt können Sie in dem jährlich erscheinenden Gesundheitsreport nachlesen unter https://www.aerztederwelt.org/presse-und-publikationen/publikationen/2022/12/22/gesundheitsreport-2022 

Vielen Dank für das Gespräch!

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