Versteht Ihr Patient Sie?

Gesundheitskompetenz und Patienten-Empowerment prägen die Arzt-Patienten-Konsultation. Was es mit diesen Konzepten auf sich hat und wie sie sich im ärztlichen Berufsalltag auswirken können, erläutert Professor Peter J. Schulz aus Lugano im Interview.

Prof. Dr. Peter J. Schulz
Professor für Kommunikationstheorie und Gesundheitskommunikation an der Universität Lugano

1. Was bedeuten die Konzepte „Gesundheitskompetenz“ und „Patient Empowerment“?

Prof. Schulz:

Gesundheitskompetenz ist die in die deutsche Sprache eingeführte Bezeichnung für den Begriff der „health literacy“, der aus den USA stammt. „Literacy“ bezeichnet im Englischen die Fähigkeit, schreiben und lesen zu können. Das Deutsche kennt dazu vor allem die negative Ausprägung als Analphabetismus; eine gute Übersetzung steht nicht zur Verfügung. Das Begriffselement der Kompetenz aber erfasst den Gedanken, dass es sich um eine Fähigkeit handelt, im Falle der Gesundheitskompetenz also zum einen um das Wissen einer Person zu gesundheitlichen Themen, zum anderen um höhere Fähigkeiten der Informationssuche, der kritischen Verarbeitung von Informationen, und der Einpassung neuer Informationen in bestehende, soweit wie möglich stimmige Weltbilder.

HintergrundSchätzungen zufolge weisen in Europa, Nordamerika und Teilen Asiens etwa 20 % der Bevölkerung eine geringe bzw. unzureichende Gesundheitskompetenz auf.1 Diese Schätzungen variieren erheblich, nicht nur wegen regionalen und kulturellen Unterschieden, sondern vor allem weil z. T. mit sehr unterschiedlichen Messinstrumenten zur Erfassung der Gesundheitskompetenz gearbeitet wird. 

Die Forschung zum Thema ist zuletzt vor allem deshalb sprunghaft angestiegen, weil kaum Zweifel bestehen, dass ein guter Gesundheitszustand mit höherer Gesundheitskompetenz einhergeht. Umgekehrt gilt, dass Patienten mit niedriger funktionaler Gesundheitskompetenz (d. h. der Fähigkeit zu lesen, schreiben und rechnen) auch nur über geringes Wissen über ihr Leiden verfügen.* Die Folgen sind u. a. geringes Engagement in der Vorsorge, geringere Nutzung von Gesundheitsdiensten, häufigere Krankenhausaufenthalte und zuletzt ein schlechterer Gesamtzustand. Hinzu kommt, dass die Behandlung von Personen mit niedriger Gesundheitskompetenz die Versicherungsgemeinschaft mehr kostet als Personen mit hoher Kompetenz.* 

„Empowerment“ – im Gesundheitsbereich häufig in Verbindung mit Empowerment einer Patientin oder eines Patienten verwendet – bedeutet wörtlich übersetzt soviel wie „Ermächtigung“. Aufgrund der üblen historischen Assoziationen verzichtet man auf die Nutzung dieses Wortes. Man könnte die Bedeutung von Empowerment etwa so umschreiben: Die Patientin oder der Patient wird befähigt, die eigenen Ressourcen zu nutzen um das eigene Leben, das heißt hier die eigene Gesundheit, selbst zu gestalten.  

2. Wann kann das Verhältnis von Gesundheitskompetenz und Empowerment im Praxisalltag vielleicht problematisch werden?

Prof. Schulz:

Gelegentlich stößt man in der Literatur und in Gesprächen auf die Annahme, dass beide Konzepte eng miteinander zusammenhängen: ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz ziehe demzufolge auch ein hohes Maß an Patienten-Empowerment nach sich. Man leitet aus dieser Annahme z. B. ab, dass eine Förderung der Gesundheitskompetenz notwendigerweise auch dazu führt, dass Menschen bezüglich ihrer Gesundheit selbständiger und unabhängiger von der Ärztin oder vom Arzt werden, und ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Ich bezweifle, dass solche und ähnliche Aussagen einer Überprüfung in der Realität standhalten. Und gewiss ist man gut beraten, beide Konzepte auseinanderzuhalten. Im Idealfall weisen Patientinnen und Patienten natürlich sowohl ein ausreichendes Maß an Gesundheitskompetenz als auch an Empowerment auf, im schlimmsten Fall fehlt es ihm an beidem. Was aber, wenn eine Ärztin einen Patienten vor sich hat, der gesundheitskompetent ist, dem es aber an Empowerment mangelt? Oder den noch viel schwerwiegenderen Fall: was geschieht, wenn ein Patient im hohen Maße empowered ist, ihm aber schlichtweg die Gesundheitskompetenz fehlt? Die Folge dürfte sein, dass er sich ermächtigt fühlt, Entscheidungen über seine und die Gesundheit anderer Menschen zu fällen, ohne dafür über eine ausreichende Wissensbasis zu verfügen. In Zeiten, in denen immer häufiger das Internet konsultiert wird sowohl bevor wir eine Arztpraxis aufsuchen als auch danach (um die gestellte Diagnose auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen), ist diese Kombination von hohem Empowerment und geringer Gesundheitskompetenz durchaus bedrohlich.* Und man ist gut beraten, beide Konzepte auseinanderzuhalten und sie nicht zu vermischen, um tatsächlich einer Patientin oder einem Patienten auch helfen zu können. 

3. Wie kann man jemanden in seiner Gesundheitskompetenz fördern und gleicher­maßen empowern? 

Prof. Schulz:

Was die Gesundheitskompetenz anbelangt, so empfehle ich, dass sich Ärztinnen und Ärzte vergewissern, ob die Patientin oder der Patient tatsächlich ihren Erläuterungen folgen konnte. Ein einfaches Vorgehen ist, die Person zu bitten, mit eigenen Worten darzulegen, was ihnen zuvor die Ärztin oder der Arzt gesagt hatte. Man spricht hier auch von der sogenannten „Teach-­Back-Methode“, ein Vorgehen, das in der Praxis erfolgreich angewandt und überprüft wurde. Die Förderung von Patienten-Empowerment erfolgt in dem Maße, in dem eine Patientin oder ein Patient erfährt, dass die eigenen Präferenzen zählen sowie dass ohne ihre bzw. seine Entscheidung und Mitwirkung schwerlich eine Verbesserung der Gesundheit zu erreichen sein wird. 

1 Paasche-Orlow MK, Parker RM et al. (2005). The prevalence of limited health literacy. J Gen Intern Med 20(2):175–184.

*Diese Aussagen werden durch Studien gestützt, die sich im Buch (s. Buchtipp) nachschlagen lassen.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Buchtipp

 

Gesundheitskompetenz, Empowerment und Arzt-­Patienten-Beziehung
Schulz, P. J., Hartung, U. (2022). 
In: Rathmann, K., Dadaczynski, K., Okan, O., Messer, M. (eds) Gesundheitskompetenz. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. Springer, Berlin, Heidelberg. ISBN: 978-3-662-62800-3

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