Psychopharmaka – Fakten und Mythen

Die Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin, überschreitet dieses aber bei Weitem. Kein zweites Fach- bzw. Teilgebiet der Medizin ist so eng mit gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Strömungen des Zeitgeistes verwoben. Seit wann gibt es Psychopharmaka und wie ist ihre geschichtliche Entwicklung?

6 Fragen und Antworten zu Psychopharmaka


1. Verändern Psychopharmaka  die Persönlichkeit?

Dass ein katholischer Priester nach Einnahme eines Antidepressivums zum Kommunismus konvertiert und Erster Sekretär der linken Partei seines Landes geworden ist, ist noch nicht berichtet worden. Trotzdem ist die Frage, ob Psychopharmaka eine persönlichkeitsverändernde Wirkung besäßen, eine der häufigsten Fragen, die Patienten stellen. Die Befürchtung liegt ja auch quasi auf der Hand, denn wenn ein Pharmakon die Psyche beeinflusst, warum sollte es dann nicht in der Lage sein, die Persönlichkeit zu ändern? Keine Panik! Je nachdem, welche Gruppe von Psychopharmaka verordnet wird, beeinflussen diese die Stimmung, reduzieren Ängste, fördern Wachheit oder Kognition und je nach Nebenwirkungsspektrum können sie auch schon mal das Gegenteil bewirken. Aber die Besonderheit des einzelnen Menschen, seine Grundeinstellungen in kulturellen, politischen und ethischen Fragen, kurz die Eigenschaften, die ihm seine individuelle unverwechselbare Struktur verleihen, verändern sie nicht. Wie alle anderen Medikamente werden auch Psychopharmaka, je nach Substanz, nach einigen Stunden bis Tagen aus dem Organismus wieder ausgeschieden und dann sind per definitionem sowohl ihre positiven als auch negativen Wirkungen nicht mehr nachweisbar.

2.  Kann ein Antidepressivum  glücklich machen?

Glück als das Eins-Sein mit seinen Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen ist durch Antidepressiva nicht zu bekommen. Ob Amerikaner zu solch grenzenloser Naivität fähig sind, ist schwer zu beurteilen. Grund zu der Vermutung könnte das Buch des US-amerikanischen Psychiaters Peter D. Kramer geben, welches die Erfolge des ersten Serotonin-Rückaufnahmehemmers beschreibt und auf dem deutschen Buchmarkt 1995 mit dem Titel „Glück auf Rezept“ erschienen ist. Der Originaltitel lautet jedoch „Listening to Prozac. A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self”. Von Glück bzw. ,luck’ ist hier nicht die Rede. So ist es auch in der Realität. Antidepressiva helfen in erster Linie gegen Depressionen. Das Glück kann man von ihnen nicht erwarten.

3. Können Psychopharmaka  Depressionen auslösen?

Nicht nur internistische Medikamente wie Kortison und Beta-Blocker können Depressionen auslösen, sondern auch Psychopharmaka vom Typ der Benzodiazepine und insbesondere aus der Gruppe der Antipsychotika. Zwar werden durch den Dopamin­antagonismus Wahnideen und Halluzinationen deutlich gebessert, andererseits aber auch die positiven Wirkungen des Dopamins wie Lust, Freude und Motivation verringert, was in der Summe in eine Depression führen kann. Das soll auch der Grund sein, warum nahezu alle Schizophreniepatienten rauchen. Denn das Nikotin stimuliert in der Leber die abbauenden Enzyme der Antipsychotika. Zusätzlich hat Nikotin einen direkten Dopamin verstärkenden Effekt. Ganz so einfach ist es aber dann doch nicht, da man weiß, dass auch Psychosen selbst im Laufe der Erkrankung zu Antriebsverminderung, kognitiven Beeinträchtigungen und sozialem Rückzug führen. Dann kann es schwierig sein, die krankheitsbedingte von der pharmakogenen Depression zu unterscheiden.

4.  Warum tritt ein Libidomangel auch häufig bei Antidepressiva auf, die gegen Depressionen helfen sollen?

Gerade die neueren Antidepressiva, die auf den Serotoninstoffwechsel einwirken und zu einer Erhöhung von Serotonin im zentralen Nervensystem führen, haben häufig sexuelle Nebenwirkungen. Und schon wieder sind wir beim Zaubermolekül Dopamin. Dies ist nicht nur verantwortlich für Aufmerksamkeit, Konzentration und Motorik, sondern auch für Euphorie und sexuelles Verlangen. Und im zentralen Nervensystem ist es, vereinfacht ausgedrückt, so geregelt, dass wenn der Serotoninspiegel steigt, der Dopaminspiegel sinkt. Und somit auch das sexuelle Verlangen. Vermutet hatte man dies nach Einführung der Präparate ziemlich rasch, um diese Hypothese aber genau zu überprüfen, wählte man den Ejakulationslatenzzeitverzögerungstest. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich ein Versuch, bei dem die männlichen Versuchsteilnehmer nach Einführung des Penis in die Vagina sowie nach dem Orgasmus jeweils eine Stopp­uhr betätigen mussten. Nun wusste man es ganz genau: Insbesondere Antidepressiva mit Einwirkung auf den Serotoninspiegel verzögern die Ejakulation.

5.  Können Psychopharmaka Nervenzellen töten?

„Neuroleptika – Wenn Psychopillen das Gehirn schrumpfen lassen“ hieß ein Artikel in der am 26.01.2015 erschienenen Ausgabe der FAZ. Dass eine Gehirnvolumenminderung durch Neuroleptika verursacht werden kann, gilt mittlerweile als gesichert. Mit einem Absterben von Nervenzellen kann dies aber nicht gleichgesetzt werden. Es kann durchaus ein Volumeneffekt sein. Hierzu passt gut der Befund, dass nach Absetzen der Neuroleptika diese Gehirn­volumenminderungen sich zumindest teilweise zurückbildeten.

Andererseits stellen Neuroleptika die einzige Therapieoption in der Behandlung der schizophrenen Psychose dar. Sie aufgrund der oben genannten Befunde aus dem Therapiekatalog zu streichen, wäre fatal, da Psychosen schwere Erkrankungen sind, unter denen die Patienten leiden und nicht nur erhebliche psychosoziale Probleme verursachen, sondern auch erhebliche Eigen- bzw. Fremdgefährdungen bedingen können.

6. Beeinträchtigen alle Psycho­pharmaka die Fahrtauglichkeit?

Wenn man den Beipackzetteln Glauben schenkt, eindeutig ja. Man muss jedoch wissen, dass Beipackzettel in Deutschland federführend von Juristen verfasst werden und Ärzte dabei nur noch als Berater dienen. Aus absicherungsrechtlichen Gründen werden dann auch seltenste Nebenwirkungen und Eventualitäten aufgeführt, was die meisten Patienten verunsichert. So paradox es sich anhören mag: Tatsächlich ist es so, dass viele Patienten erst durch Psychopharmaka ihre Fahrtauglichkeit wiedergewinnen. So sind bei einer ausgeprägten Depression Auffassungsvermögen, Konzentration und Reaktionsschnelligkeit soweit vermindert, dass dies mit einer Verkehrstauglichkeit nur schwer zu vereinbaren ist. Viele Antidepressiva wirken nicht nur antidepressiv, sondern verursachen auch keine Müdigkeit oder Herabsetzung der Reaktionsschnelligkeit. Oder Beispiel Schizophrenie: Diese Erkrankung geht häufig mit akustischen Halluzinationen und Wahnideen einher. Beides Symptome, durch die die Verkehrstauglichkeit nicht gerade verbessert wird. Auch hier wird durch Antipsychotika Fahrtauglichkeit wiederhergestellt.

© Psychopharmaka und Drogen, Burkhard Voß, Kohlhammer Verlag 2020

Psychopharmaka - Eine Entdeckungsgeschichte

Psychische Erkrankungen sind so alt wie die Menschheit selbst. Und von Anfang an haben die, die helfen wollten, sich nicht nur religiöser Rituale, Gebete oder aufbauender Gespräche bedient, sondern ebenso versucht, durch chemische Substanzen den Geist zu beeinflussen. Die meisten dieser Substanzen werden heute als Drogen gehandelt. Ein Beispiel ist Kokain: Es war in der religiösen Kultur der indigenen Bevölkerung Südamerikas tief verwurzelt, es ließ Sorgen vergessen und vertrieb Müdigkeit und Hunger. Die ersten Psychopharmaka, die nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt wurden, lösten Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts fast eine Revolution in der Psychiatrie aus. Allmählich setzte sich von da an die Erkenntnis durch, dass psychische Erkrankungen mit der Biologie des Gehirns und der Genetik ebenso viel zu tun haben wie mit frühkindlichen Erfahrungen und psychosozialem Stress. 

Gesellschaftlicher Zeitgeist

Der Einsatz von Psychopharmaka ist eng mit den Strömungen des jeweiligen gesellschaftlichen Zeitgeistes verbunden. Dies wirkt sich auch auf die unterschiedlichen Therapieformen aus. Bis in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein waren es noch tiefenpsychologische Therapien oder Psychoanalyse, die nahezu für den Goldstandard gehalten wurden. Bis weit in die 1980er-Jahre war es unter Psychotherapeuten nahezu verpönt, Psychopharmaka bei ihren Patienten überhaupt einzusetzen. Der Erfolg dieser Substanzen im weiteren Verlauf hat aber dazu geführt, dass heute bei den meisten psychischen Erkrankungen eine Kombination aus einer psychopharmakologischen und einer verhaltens- bzw. gesprächstherapeutischen Behandlung angewendet wird. 

Zur Erfolgsgeschichte zählt die Einführung der atypischen Neuroleptika in den 1990er-Jahren, die bei nahezu gleicher Wirkung eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit haben, als unangenehme Nebenwirkung Parkinson-ähnliche Symptome hervorzurufen, wie es häufig bei den älteren Neuroleptika der Fall ist. Ebenso zählt die Entwicklung potenter Anxiolytika, wie beispielsweise Pregabalin, die größtenteils kein Abhängigkeits­potential haben, dazu. 

Zu beobachten ist zugleich, dass manche Psychopharmaka gezielt dazu eingesetzt werden, jenseits von psychischen Erkrankungen kognitive Leistungen und Konzentration zu verbessern. Der Begriff „Hirn­doping“ bringt dies auf den Punkt. Schon im Jahr 2000 bemerkte hierzu ein US-amerikanischer Arzt ohne Ironie: „Die Leistungen im Studium hängen von der Qualität bestimmter Apotheken am Ort ab.“ Die Bewertung menschlichen Verhaltens und dessen Klassifikation als psychische Erkrankung sollte deswegen immer im jeweiligen historischen Kontext gesehen werden. 

 

Das Buch

Im Laufe meiner 30-jährigen klinischen Tätigkeit ist mir in Gesprächen mit meinen Patienten aufgefallen, dass einige Aspekte in der Therapie mit Psychopharmaka kaum bekannt sind. Wie beispielsweise die Gleichgültigkeit, die von Antidepressiva aus der Gruppe der Serotoninwiederaufnahmehemmer ausgelöst wird. Diese Gleichgültigkeit nutzen einige gezielt, um in der widrigen Arbeitswelt zurechtzukommen. Zudem stellten die Patienten mir oft ähnliche Fragen: Ändern Psychopharmaka die Persönlichkeit? Machen Antidepressiva dick? Oder machen Antidepressiva abhängig?

Solche Aspekte und Fragen in Verbindung mit interessanten Anekdoten (Wer beispielsweise weiß schon, dass Marilyn Monroe mit einem Stich in die Kapsel für eine schnellere Wirkung des süchtig machenden Medikaments sorgte?) bildeten die Grundlage für die Idee des Buchs „Psychopharmaka und Drogen – Fakten und Mythen in Frage und Antwort“. Über 100 Fragen und Antworten erläutern Wirkungsweisen und historische Entwicklungen von psychoaktiven Substanzen, worin der Erfolg der Psychopharmaka begründet ist, aber auch welche Risiken und Abwege damit verbunden sind. Das Buch ist eine Entdeckungsgeschichte der Psychopharmaka mit sozialpsychologischer Grundierung, der auch die regelmäßig eingeflochtenen historischen Anekdoten dienen. Es richtet sich nicht nur an Ärzte und Studenten, sondern auch an interessierte Laien und Patienten, die sich über Psychopharmaka und Drogen grundsätzlich informieren möchten. 

Dr. med. Burkhard Voß
Arzt für Neurologie und Psychiatrie
Krefeld
 

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