3 Blicke auf das Thema „Kopfschmerz“

10 bis 20 % aller Hausarztpatienten leiden unter rezidivierenden Kopfschmerzen, vorrangig unter Migräne und Spannungskopfschmerz. In diesem Beitrag geben drei Experten ihre Sichtweise auf dieses Thema.

In unserem Format "3 Blicke auf..." geben Expertinnen und Experten Einblicke in aktuelle Diskussionsthemen in der Alllgemein- und Inneren Medizin. In diesem Beitrag geht es um Kopfschmerz, bzw. Migräne. Es äußern sich Dr. med. Johannes Horlemann, Kevelaer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS), sowie Prof. Dr. med. Hartmut Göbel,­ Schmerzklinik Kiel (Exzellenz­zentrum Kopfschmerz der DGS), und PD Dr. med. Michael Küster,  Schmerzzentrum Bonn, Vizepräsident der DGS.

Kopfschmerz in der Basisversorgung

Innerhalb eines Jahres leiden circa 15 % der Deutschen an Migräne. 10 bis 20 % aller Hausarztpatienten leiden unter rezidivierenden Kopfschmerzen, vorrangig unter Migräne und Spannungskopfschmerz. Nur 10 % der Kopfschmerzen sind symptomatisch. Vor allem sind Frauen betroffen, im Verhältnis 2-3:1 gegenüber Männern. In der Politik, in der Öffentlichkeit und insbesondere bei den Entscheidungsträgern in der Gesundheitspolitik herrscht immer noch zu wenig Bewusstsein für den Versorgungsbedarf dieser großen Patientengruppe, obwohl Kopfschmerz als „Volkskrankheit“ in unserer Gesellschaft lange bekannt ist.


„Die Bedeutung von Kopfschmerz wurde bisher, obwohl stetig präsent, unterschätzt.“

- Dr. med. Johannes Horlemann, Kevelaer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS)


Konsens herrscht hingegen, dass alle modernen Therapieoptionen zur Anwendung kommen sollen. Unter diesen gibt es aktuell viele Neuerungen, insbesondere die Therapie mit Antikörpern. Deshalb hat die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin eine Praxisleitlinie neu aufgestellt und einen Praxisleitfaden entwickelt. Zusätzlich werden viele Fortbildungen organisiert, die sich an die Studentinnen und Studenten sowie Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung, Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner, aber auch Basisversorger wie Gynäkologinnen und Gynäkologen, Ärztinnen und Ärzte in der Pädiatrie, in der Neurologie und in der Schmerzmedizin richten. 

Bedeutung von „Kopfschmerz“

Die Bedeutung von Kopfschmerz wurde bisher in diesen Fachgruppen, obwohl stetig präsent, unterschätzt: hinsichtlich des Verlustes an Lebensqualität für die Betroffenen, hinsichtlich sekundärer Krankheitsrisiken sowie hinsichtlich verlorener Arbeitstage. Dabei können neue Therapieoptionen beispielsweise die Anfallshäufigkeit von Migräne um mehr als 50 % reduzieren und damit Betroffenen ein neues Leben schenken.

Die Kopfschmerz-Initiative der DGS
Vor einem Jahr gründete die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) zusammen mit Sponsoren aus der Industrie die „DGS-Initiative chronischer Kopfschmerz – Für eine Verbesserung in der Primärversorgung“. Ziel der Initiative ist es, das Bewusstsein für die individuellen und volkswirtschaftlichen Belastungen durch chronische Kopfschmerzen zu steigern und den Zugang zu modernen Medikamenten zu erleichtern. Außerdem können sich Ärztinnen und Ärzte in der Primärversorgung fortbilden, um chronische Kopfschmerzen frühzeitig zu erkennen und eine angemessene Therapie einzuleiten. Viele Ziele wurden bereits erreicht, doch es besteht weiter Handlungsbedarf.

 

Vereinsamende Migräne

Migränepatientinnen und -patienten leiden häufig für sich allein. Sie finden in ihrem Arbeitsumfeld, aber auch am Arbeitsplatz häufig wenig Verständnis, sie machen die Krankheitsbewältigung mit sich allein aus. Dabei ist die Erkrankung ein Leben lang aktiv. 

Die Migräne-Attacke kann für viele Betroffene einen bis zu drei Tage dauernden, kompletten Ausfall aus dem Leben bedeuten: Man zieht sich zurück, lebt hinter vorgezogenen Gardinen, hat drei Tage Hausarrest, isst und trinkt nicht mehr, die Umwelt nimmt den Betroffenen nicht mehr wahr. Mit anderen Worten: Betroffene sind ein „Totalausfall“. 

Es ist deshalb wichtig, diese Patientinnen und Patienten aus ihrer Isolation zu holen. Der Beitrag von Patientinnen und Patienten mit Migräne für unsere Gesellschaft ist erheblich. Mi­gränepatientinnen und -patienten sind in der Lage, sehr schnell aufzufassen und sehr schnell gedanklich aktiv zu agieren und zu reagieren. Migräne erfordert einen hohen Energieumsatz in den Nervenzellen. Migräne­patientinnen und -patienten denken nach vorne und seitwärts, sie planen und wissen im Voraus, wie Dinge ablaufen könnten und was man darüber denken sollte. Solche Menschen brauchen wir – im Alltagsleben und ohne Schmerzen ebenso agierend – unbedingt.

Hormone in der Vorbeugung der menstruellen Migräne

Migräne ist ein Risikofaktor für Schlaganfall und andere vaskuläre Ereignisse. Da auch das Schlaganfallrisiko bei Einsatz von kombinierten hormonellen Kontrazeptiva erhöht sein kann1, muss das gleichzeitige Bestehen einer Migräne und die Ein­nahme von kombinierten hormonellen Kontrazeptiva aufeinander abgestimmt werden. Die European Headache Federation (EHF) und die European Society of Contraception and Reproductive Health (ESCRH) haben für diese Situation den folgenden Expertenkonsens erarbeitet.2 


„Bei Frauen mit Migräne sollte die Kontrazeption auf das persönliche Risiko der Frau abgestimmt werden.“

- Prof. Dr. med. Hartmut Göbel,­ Schmerzklinik Kiel (Exzellenz­zentrum Kopfschmerz der DGS) 


1. Streben Frauen eine hormonelle Empfängnisverhütung an, wird eine klinische Untersuchung empfohlen, um zu analysieren, ob eine Migräne mit oder eine Migräne ohne Aura besteht. Zusätzlich soll die Migränehäufigkeit (Kopfschmerztage pro Monat) sowie die Ermittlung von vaskulären Risikofaktoren vor Verschreibung kombinierter hormoneller Kontrazeptiva erfolgen. 

2. Frauen, die hormonell verhüten wollen, wird die Nutzung eines speziellen Instruments zur Diagnose der Migräne und ihrer Subtypen empfohlen. Dazu können Fragebögen oder auch digitale Optionen wie die Migräne-App (unter diesem Namen in den App-Stores kostenlos downloadbar) eingesetzt werden. 

3. Die Auswahl der hormonellen Empfängnisverhütung sollte unter Berücksichtigung des möglichen Risikos für einen ischämischen Schlaganfall erfolgen. Kombinierte orale Kontrazeptiva mit mehr als 35 µg Ethinylestradiol weisen ein erhöhtes Risiko für einen ischämischen Schlaganfall auf. Kombinierte orale hormonelle Kontrazeptiva mit weniger als 35 µg Ethinylestradiol, kombinierte Verhütungspflaster und kombinierte Vaginalringe weisen ein mittleres Risiko für ischämischen Schlaganfall auf. Ein geringes Risiko weisen reine Gestagen-Kontrazeptiva, subdermale Implantate, Depotinjektionen und Levonorgestrel freisetzende Intrauterinsysteme auf. 

4. Frauen, bei denen eine Migräne mit Aura besteht und die eine hormonelle Empfängnisverhütung anstreben, wird von der Verordnung von kombinierten hormonellen Verhütungsmitteln abgeraten. 

5. Frauen, die an Migräne mit Aura leiden und eine Verhütung anstreben, werden nicht hormonelle Verhütungsmethoden (Kondome, kupferhaltige Intrauterinpessare oder reine Gestagen-Kontrazeptiva) als bevorzugte Option empfohlen. Besteht eine Migräne mit Aura und werden bereits kombinierte hormonelle Kontrazeptiva zur Empfängnisverhütung verwendet, wird eine Umstellung auf nicht hormonelle Verhütungsmittel oder reine Gestagen-Kontrazeptiva empfohlen. 

6. Bei Frauen, die an Migräne ohne Aura leiden und die eine hormonelle Empfängnisverhütung anstreben, bei denen jedoch zusätzliche Risikofaktoren vorliegen (Rauchen, arterielle Hypertonie, Übergewicht, Herzkreislauferkrankungen, tiefe Venenthrombose oder Lungenembolie in der Vorgeschichte) werden eine nicht hormonelle Verhütung oder reine Gestagen-Kontrazeptiva als bevorzugte Option empfohlen. 

7. Bei Frauen, die an einer Migräne ohne Aura leiden und die hormonelle Verhütungsmittel anwenden und keine zusätzlichen Risikofaktoren aufweisen, wird die Verwendung von kombinierten hormonellen Kontrazeptiva mit einer Dosis von weniger als 35 µg Ethinylestradiol zur Empfängnisverhütung empfohlen. Gleichzeitig sollte eine Verlaufskontrolle der Migränehäufigkeit und der Migränecharakteristika erfolgen. 

Kenntnisse zu Migräne auch für Gynäkologinnen und Gynäkologen wichtig
Frauen im reproduktiven Alter sind deutlich häufiger von Migräne betroffen als gleichaltrige Männer, während sich bei Mädchen und Jungen vor der Pubertät keine Unterschiede in der Prävalenz zeigen. Als Ursache dafür gelten Schwankungen des Östradiolspiegels im Verlauf des weiblichen Zyklus. Kombinierte hormonelle Kontrazeptiva können sich zwar protektiv auf die Anfallshäufigkeit auswirken, gleichzeitig können sie aber auch das Schlaganfallrisiko der Patientinnen steigern, das bei Migränepatientinnen ohnehin erhöht ist. Bei der Behandlung müssen daher individuelle Risikofaktoren, wie zum Beispiel kardiovaskuläre Vorerkrankungen, Rauchen und Übergewicht sowie das Auftreten einer Migräneaura berücksichtigt werden. Diese Zusammenhänge zu kennen, ist besonders für Gynäkologinnen und Gynäkologen wichtig, die Frauen in der Kontrazeption betreuen. Daher soll mit der Initiative auch diese Facharztgruppe angesprochen werden.

 

Kopfschmerzinitiative 2023 – PraxisLeitlinie bietet ­wissenschaftliche Orientierung

Migräne ist der häufigste schwere Kopfschmerz, der Patientinnen und Patienten zur Ärztin bzw. zum Arzt führt. Wir gehen davon aus, dass Migränekopfschmerzen noch immer bei vielen Patientinnen und Patienten nicht diagnostiziert werden.


„Wir gehen davon aus, dass Migränekopfschmerzen noch immer bei vielen Patientinnen und Patienten nicht diagnostiziert werden.“

- PD Dr. med. Michael Küster,  Schmerzzentrum Bonn, Vizepräsident der Deutschen Ge­sellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS)


Richtlinien empfehlen, denjenigen Migränepatientinnen und -patienten eine Prophylaxe anzubieten, die an mindestens vier Kopfschmerztagen pro Monat von einer Beeinträchtigung berichten: Das sind in großen Studien ca. 40 % der Migränebetroffenen. Es besteht jedoch eine Unterversorgung, denn nicht einmal 13 % dieser Patientinnen und Patienten verwenden eine Prophylaxe. Diese Mangelversorgung hat zahlreiche Gründe, die in der lückenhaften Ausbildung in Studium und Facharztausbildung sowie mangelhafter Abbildung im ärztlichen Honorarwesen und einer mangelhaften Versorgungsplanung seitens der Kassenärztlichen Vereinigungen liegen. 

Um das zu ändern und allen Interessierten wissenschaftliche Orientierung zu geben, wurde im Rahmen der Kopfschmerz­initiative I der DGS (2022/2023) die bestehende PraxisLeitlinie „Primäre Kopfschmerzerkrankung“ unter Federführung der Kopfschmerzklinik Kiel in einer Arbeitsgruppe der DGS überarbeitet, kommentiert, mit der Patientensicht abgeglichen und konsentiert. Sie wurde in der Zeitschrift „Schmerzmedizin“ im Oktober 2022 erstmals präsentiert und nach endgültiger Fertigstellung vom Vorstand der DGS freigegeben. 

Sie aktualisiert Bewährtes in der Attackentherapie der ­Migräne. Neben bekannten allgemeinen Verhaltensregeln beschreibt sie den Einsatz von Antiemetika und Analgetika, erklärt die Bedeutung des möglichst frühzeitigen Einsatzes in der Kopfschmerzphase sowie die der ausreichenden Startdosis, das Vorgehen bei Wiederkehrkopfschmerzen sowie die 10:20er-Regel und ein differenziertes medikamentöses intravenöses Vorgehen beim Kopfschmerznotfall. Dabei werden auch differenzierte Aussagen zu allen Triptanen, zu Unterschieden, Anflutung, Wirkdauer, Kombinierbarkeit mit NSAIDs (non-steroidal anti-inflammatory drug) und Kontraindikationen getroffen.

Medikamentöse Migräneprophylaxe

Ziel einer medikamentösen Migräneprophylaxe ist die ­Reduktion von Häufigkeit, Intensität und Dauer der Attacken (inkl. der Migräne­auren) und die Verhinderung von Kopfschmerzen infolge eines Übergebrauchs an Kopfschmerzakutmedikation. Über Jahrzehnte erfolgte die medikamentöse Migräneprophylaxe mangels kausal wirkender Alternativen ausschließlich mit unspezifischen Wirkstoffen. Keiner der bisher eingesetzten Wirkstoffe wurde gezielt für die Migräneprophylaxe entwickelt. Zudem gingen sie im praktischen Alltag mit zahlreichen Nachteilen einher, die – mangels echter Alternativen – lange Zeit in Kauf genommen werden mussten und die in Studien bei bis zu 40 % der Patientinnen und Patienten innerhalb der ersten drei Monate zum Therapieabbruch führten.

Basierend auf pathophysiologischen Erkenntnissen zur Genese der Migräne und der Bedeutung des Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) wurden seit Beginn des 21. Jahrhunderts gezielt spezifische Migräneprophylaktika, wie die monoklonalen Antikörper (mAK) gegen den CGRP-Rezeptor (Erenumab) bzw. CGRP (Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab) entwickelt und auf der Grundlage umfangreicher klinischer Studien seit 2018 schrittweise auch in Deutschland zugelassen. Diese mAK werden subkutan entweder alle 28 Tage (Erenumab), einmal monatlich (Fremanezumab, Galcanezumab), oder alle drei Monate (Fremanezumab) bzw. intravenös (Eptinezumab) gegeben. Im Gegensatz zu den unspezifischen Prophylaktika sind diese Antikörper in der klinischen Praxis evident nicht nur sehr gut verträglich, sondern vor allem auch rasch wirksam, sodass bei den meisten Patientinnen und Patienten bereits innerhalb der ersten vier Wochen nach Behandlungsbeginn beurteilt werden kann, ob die Fortführung der Therapie zweckmäßig ist oder nicht.

 

Insgesamt hat sich die vorbeugende Therapie der ­Migräne durch die Einführung der CGRP-AK dramatisch verändert. Für Betroffene stehen nun relativ schnell wirksame und gut verträgliche Optionen zu Verfügung, die eine echte Chance bieten, vorbeugend aktiv werden zu können, ohne sich die absehbaren Nebenwirkungen und die eingeschränkten Wirkungen schönreden bzw. umständlich rationalisieren zu müssen.

Migräne – Epidemiologie und Kosten

Epidemiologisch zählt die Migräne mit einer Einjahresprävalenz von 19 % bei Frauen bzw. 7 % bei Männern in der Altersgruppe zwischen 18 – 65 Jahren in Deutschland zu den häufigsten Kopfschmerzformen überhaupt. 

Durch ihre bevorzugte Manifestation in den sog. produktiven Jahren zwischen dem 30. und 45. Lebensjahr verursacht die Migräne nicht nur direkte, sondern vor allem beträchtliche indirekte Krankheitskosten. Sie ist nach Demenz und Schlaganfall ökonomisch die drittteuerste neurologische Erkrankung in Europa und zählt weltweit zu der Erkrankung mit den zweitstärksten Beeinträchtigungen Betroffener. Tatsache ist, dass bis vor wenigen Jahren das Querschnittsfach Schmerzmedizin im Studium in der Studienordnung nicht implementiert war und das Thema „Kopfschmerz“ oft mit nur ein bis zwei Stunden Vorlesung im klinischen Abschnitt bedacht war.

Laut einer noch im Dezember 2020 durchgeführten Online-­Befragung unter Primärversorgerinnen und -versorgern diagnostizierten 69 % bei ihren Patienten häufig zervikogenen Kopfschmerz, nach dem Spannungskopfschmerz im Ranking auf Platz 2. Dieses Ergebnis passt nicht zur epidemiologischen Datenlage, es ist alarmierend!

 

Literatur:

1 Sacco S et al. Effect of exogenous estrogens and progestogens on the course of migraine during reproductive age: a consensus statement by the European Headache Federation (EHF) and the European Society of Contraception and Reproductive Health (ESCRH). J Headache Pain, 2018. 19(1): p. 76.

2 Sacco S et al. Hormonal contraceptives and risk of ischemic stroke in women with migraine: a consensus statement from the European Headache Federation (EHF) and the European Society of Contraception and Reproductive Health (ESC). J Headache Pain, 2017. 18(1): p. 108. 

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