4 Blicke auf: „Migräne in Deutschland – Neue S1-Leitlinie hilft in der Praxis“

Die neue S1-Leitlinie soll dafür sorgen, dass Schmerzpatienten stets die passende, evidenzbasierte Therapie bekommen. Vier Blicke hierzu von Expertinnen und Experten.

Migräne, ob chronisch oder episodisch, wird unterschätzt: Sie ist häufiger als gedacht, wird oft nicht erkannt, führt zu vielen Ausfällen in Familie oder Beruf und beeinträchtigt die Lebensqualität stark. Doch mehr als ein Drittel der Patienten* wird inadäquat und nicht leitliniengerecht versorgt – sogar in spezialisierten Schmerzzentren. Die neue S1-Leitlinie soll jetzt dafür sorgen, dass Patienten stets die passende, evidenzbasierte Therapie bekommen.

Wichtig sind vor allem die Hausärzte: Sie sind fast immer die erste Anlaufstelle und entscheiden über den weiteren Verlauf. Die aktuelle Leitlinie wird daher den Erfordernissen der Praxis gerecht: Sie bietet praktische Übersichten und passt zum klinischen Alltag.


„Zwei neue Substanzklassen, Gepante und Ditane, erweitern die Möglichkeiten erheblich: Sie können Menschen helfen, die bislang keine geeignete Behandlung ihrer akuten Migräneanfälle haben.“

- PD Dr. Charly Gaul, Klinik Kopfschmerzzentrum Frankfurt


Warum wird die Migräne oft nicht erkannt oder falsch behandelt?

PD Dr. Charly Gaul: Ehrlich gesagt wissen wir das auch nicht genau. Klar ist, dass die Migräne oft verkannt wird, etwa als Spannungskopfschmerz. Manche Patienten werden dann zum Orthopäden oder gar zum Osteopathen geschickt, um sich Wirbel einrenken zu lassen. Die Daten aus unserem DMKG-Kopfschmerzregister zeigen, dass weniger als die Hälfte derjenigen Migräne-Patientinnen und -Patienten, die eine Indikation zu einer Prophylaxe nach den Leitlinien haben, eine Prophylaxe einnehmen. Das kann verschiedene Gründe haben: Manche Patienten wollen keine Medikamente nehmen oder sie versuchen, selbst klarzukommen. Dann gehen sie nur bei schweren Attacken zum Arzt oder therapieren sich gleich selbst. Deshalb ist eine sorgfältige Diagnose sehr wichtig.

Die neue S1-Leitlinie soll das ändern. Was bringt sie für die Akuttherapie?

PD Dr. Charly Gaul: Wir haben zwei neue Substanzklassen, die die Therapiemöglichkeiten erheblich erweitern. Sie sind nicht unbedingt für Menschen gedacht, die selten Attacken haben. Die kommen mit den üblichen Analgetika zurecht. Wenn die bewährten Triptane nicht helfen oder wenn Kontraindikationen bestehen, dann bietet die S1-Leitlinie neue Optionen: Seit Herbst 2022 zugelassen sind Gepante und Ditane, als Rimegepant und Lasmiditan. Rimegepant, das erste Gepant, das in Deutschland zugelassen wurde, ist noch nicht auf dem Markt. Lasmiditan ist seit dem 01. März erhältlich. Lasmiditan greift am Serotoninrezeptorsubtyp 5HT1F an, dieser löst keine Vasokonstriktion aus, deshalb kann das Medikament auch bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingesetzt werden. Solche Patienten wurden auch in die Zulassungsstudien eingeschlossen.Rimegepant wirkt über eine orale CGRP-Rezeptorblockade.

Wie gut ist die Wirksamkeit dieser neuen Substanzen belegt?

PD Dr. Charly Gaul: Die Wirksamkeit von Rimegepant und Lasmiditan wurde in placebokontrollierten Studien gezeigt. Dabei zeigen beide Substanzen eine Überlegenheit gegenüber Placebo. Vergleicht man die nummerischen Ergebnisse für die Schmerzfreiheit nach zwei Stunden ist Lasmiditan dem Rimegepant deutlich überlegen,  direkte Vergleichsstudien auch zu Triptanen wurden aber bislang noch nicht durchgeführt. Vorteil beider Substanzen könnte sein, dass ein Teil der Patienten darauf anspricht, der bislang keine gute Wirksamkeit durch Einsatz eines Triptans erreichen konnte. Die Verträglichkeit von Rimegepant ist besser als die von Lasmiditan. Daher gibt es die Einschränkung, dass man nach Einnahme von Lasmiditan acht Stunden kein Fahrzeug führen oder Maschinen bedienen soll. Aber für viele Betroffene gibt es keine Alternative. Denn bei einer Attacke könnten die ja auch nicht Auto fahren oder an der Kreissäge stehen.


„Die Migränetherapie wird viel individueller und personalisierter. Schon bei einer oder zwei schweren Attacken im Monat ist eine Prophylaxe möglich. “

- PD Dr. Tim Jürgens, KMG-Klinikum Güstrow


Prophylaxe ist besonders wichtig – was bringt die S1-Leitlinie für die Vorbeugung?

PD Dr. Tim Jürgens: Das Wichtigste ist, dass wir zu einem neuen Konsens gekommen sind: Die Patienten definieren zusammen mit ihren Ärzten, wann eine Prophylaxe nötig ist. Das ist ein wesentlicher Schritt hin zur Individualisierung und Personalisierung. Damit wird die Migränetherapie effektiver. Sie muss auf die Bedürfnisse der Patienten zugeschnitten sein – auf die Häufigkeit der Attacken, den persönlichen Leidensdruck, die Lebensqualität.

Was hat sich im Vergleich zu vorher geändert?

PD Dr. Tim Jürgens: Wir sind davon abgekommen, statisch drei bis vier Attacken im Monat für die Prophylaxe vorauszusetzen: Neu ist, dass auch bei einer oder zwei sehr schweren Attacken eine Prophylaxe sinnvoll sein kann. Bei der chronischen Migräne, wo es ja Menschen gibt, die an 30 Tagen im Monat unter Attacken leiden, streben wir an, 30 % Besserung zu erreichen. Vorher waren es 50 %. Wenn aber schon an 10 Tagen normal gelebt werden kann, ist das eine enorme Besserung. In der Leitlinie gibt es dazu ein übersichtliches Schema. Es zeigt alle Schritte der Prophylaxe im Verlauf.

Empfiehlt die S1-Leitlinie auch neue Medikamente für die Prophylaxe?

PD Dr. Tim Jürgens: Ja, die neue Substanz Rimegepant kann zur Akuttherapie, aber auch zur Prophylaxe verwendet werden. Bei den herkömmlichen Triptanen besteht die Gefahr einer Verschlechterung bei Übergebrauch, das scheint bei Rimegepant nicht so zu sein. Daher ist Rimegepant sehr interessant für alle, die an vielen Tagen Akuttherapie einnehmen müssen. Damit entsteht ein fließender Übergang zwischen Akuttherapie und Prophylaxe. Das macht Hoffnung.


„Wir behandeln bei hochfrequenter und chronischer Migräne ein biologisches System. Das dreht man nicht in ein paar Monaten um. “

- PD Dr. Gudrun Goßrau, Universitätsklinikum TU Dresden


Wann sollten Patienten eine medikamentöse Prophylaxe bekommen?

PD Dr. Gudrun Goßrau: Diese Entscheidung ist immer individuell. Eine Indikation für eine medikamentöse Prophylaxe liegt bei besonderem Leidensdruck, bei Einschränkung der Lebensqualität und bei häufigem Schmerzmittelgebrauch als Risikofaktor der Kopfschmerzchronifizierung vor. Außerdem können auch Situationen, wie z. B. häufige Migräneauren mit neurologischen Ausfällen wie z. B. Sehstörungen oder besonders lange und schwer therapierbare Migräneattacken den Einsatz einer Prophylaxe erforderlich machen.

Wichtig war uns die Individualisierung der Therapie. Auch bei Patienten mit episodischer Migräne verläuft nicht jeder Monat gleich, und die Attackenfrequenz kann sich infolge persönlicher Faktoren ändern. Liegen ungünstige psychosoziale Faktoren vor, forciert das die Chronifizierung mit hochfrequenten Migräne­attacken und eine Prophylaxe wird erforderlich.

Wie lange sollte eine medikamentöse Prophylaxe dauern?

PD Dr. Gudrun Goßrau: Bei der Dauer brechen wir mit dem alten Dogma von sechs Monaten: Es können jetzt sogar 12 bis 24 Monate und länger sein. Die individuelle Situation zählt, viele Medikamente zeigen erst nach sechs Monaten überhaupt Wirkung – der bisherige Zeitraum war einfach zu kurz. Gerade bei der hochfrequenten Form mit mindestens acht Tagen im Monat oder den typischen Begleiterkrankungen Depression, Ängste, Schmerzerkrankungen sind wir jetzt bei 12 Monate ­Prophylaxe  – mindestens.

Warum ist es so schwierig und langwierig, Migräne, besonders die chronische, zu behandeln?

PD Dr. Gudrun Goßrau: Man muss sich klar machen: Wir behandeln bei der chronischen Migräne ein biologisches System. Und nicht nur das, psychosoziale Faktoren wie Stimmung, Ängste, Familie, Beruf usw. fließen in das komplexe Beschwerdebild ein. Das dreht man mit kurzen Therapiedauern nicht mal eben um.

Deshalb die wirklich wichtige Botschaft für Patienten und Therapeuten: Migräne ist behandelbar! Wir stellen in der Leitlinie dar, wie viel möglich ist, neben neuen Medikamenten auch vielfältige nichtmedikamentöse Verfahren.


„Je länger und schwerer die Migräne ist, umso vielschichtiger muss die Therapie sein – bis hin zur Lifestyleberatung. Die gehört auch dazu.“

- PD Dr. Stefanie Förderreuther, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München


Welche Bausteine der Therapie können Ärzte und Patienten zusätzlich anwenden?

PD Dr. Stefanie Förderreuther: Nicht-medikamentöse Verfahren sind ein ganz entscheidender Baustein, der oft vergessen wird, aber für Patienten extrem wichtig ist. Denn nicht jeder braucht Medikamente, nicht jeder will sie, nicht jeder spricht ausreichend darauf an. Auch viele Studien haben gezeigt: Die Kombination von medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapie ist effektiver als jede Maßnahme für sich allein.

Wie müssen Ärzte und Therapeuten dazu beraten?

PD Dr. Stefanie Förderreuther: Ganz wichtig ist zunächst die Aufklärung: Die Migräne ist eine hirnorganische Erkrankung, aber sie wird auch durch äußere Faktoren bestimmt. Deswegen gehört Beratung über Einflussfaktoren wie Stress, Schlaf und andere Trigger in jedes Therapiekonzept. Schon das Auslassen einer Mahlzeit kann eine Attacke auslösen, ebenso zu wenig Trinken. Basisempfehlungen sind Entspannungsverfahren und regelmäßiger Ausdauer­sport, d. h. mindestens dreimal die Woche 30 Minuten. Letztlich ist das Lifestyleberatung, die nicht in ihrer Wirkung unterschätzt werden sollte. Die Therapie muss sich grundsätzlich an den individuellen Bedürfnissen, der Schwere des Verlaufs und den Komorbiditäten orientieren. Je mehr psychische Kofaktoren vorliegen, die zu Fehlverhalten wie Medikamentenübergebrauch geführt haben, umso intensiver muss die Therapie sein. Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie werden z. B. zur Stressbewältigung oder zum Umgang mit Attackenangst mit Erfolg bei Migräne eingesetzt.

Viele Patienten, aber auch Therapeuten greifen zu alternativen Methoden, etwa Akupunktur oder Diäten. Worauf ist zu achten?

PD Dr. Stefanie Förderreuther: Sogenannte sanfte Methoden sind beliebt, insbesondere, wenn die Patienten dabei Zuwendung erfahren. Dazu zählt auch die Akupunktur. Viele Patienten wollen sie nutzen. Die Studienlage dazu ist allerdings uneinheitlich. In der Leitlinie halten wir das fest: Akupunktur wirkt, wenn überhaupt, nur moderat und eher unspezifisch. Es war uns in der Leitlinie auch sehr wichtig, klarzustellen, was definitiv nicht wirkt: Die beliebte Homöopathie hilft zum Beispiel nicht.

Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel sind nutzlos, auch Probiotika, Darmsanierung oder bestimmte Diäten, mit denen angeblich Allergien beseitigt werden. Auch das Durchtrennen von Nerven an der Stirn oder am Kiefer ist sinnlos bis schädlich, das gilt auch für Piercings. Patienten klammern sich an jeden Strohhalm, das ist verständlich. Aber Ärztinnen und Ärzte müssen sie ehrlich aufklären. Dabei hilft unsere evidenzbasierte S1-Leitlinie.

Fazit S1-Leitlinie
 
  • Migräne wird oft verkannt und falsch therapiert: Weniger als die Hälfte, bei denen eine Indikation nach den Empfehlungen der Leitlinie für eine prophylaktische Behandlung besteht, setzt eine solche auch ein.
  • Die Behandlung mit einer medikamentösen Prophylaxe kann bis zu 24 Monate erfolgen, bevor zum Beispiel durch einen Auslassversuch die Indikation geprüft wird.
  • Die Dauer kann 12 bis 24 Monate und länger betragen  – die individuelle Situation zählt. Ditane zeigen erst nach sechs Monaten Wirkung.
  • Neue Substanzklassen erweitern die Möglichkeiten der Therapie erheblich: Gepante und Ditane. Lasmiditan wirkt nicht vasokonstriktiv und hilft Menschen mit kardiovaskulären Risikofaktoren.
  • Bei jeder Migränebehandlung sind neben einem biologischen System auch soziale Systeme betroffen: Familie, Beruf, Wohnsituation.
  • Wichtiger Baustein der Behandlung sind die nicht-medikamentösen Verfahren, weil sie Medikamente entbehrlich machen können bzw. die Effekte einer medikamentösen Prophylaxe verstärken.
  • Das gesamte Therapiekonzept kennen und anwenden: Nicht nur Medikamente, sondern vor allem auch Sport, Entspannungsverfahren, Lifestyleberatung bis hin zu gezielter Verhaltenstherapie.
 

 

Zu diesem Themenbereich gibt es eine CME "Diagnose, Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne"

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Zur Leitlinie: 

https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-057

 

*Zur besseren Lesbarkeit kann in Texten das ­generische Maskulinum verwendet werden. ­Nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.

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