Diagnose, Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne

Die folgende Übersicht soll auf Basis der aktuellen pathophysiologischen Erkenntnisse einen Leitfaden für die sichere Diagnostik und Therapie der unterschiedlichen Migräneformen bieten.

Während die Migräne in der zweiten Lebensdekade die höchste Inzidenz aufweist, liegt die Prävalenz vom jungen Erwachsenenalter bis in die 50er-Jahre im höchsten Bereich. Grundlage ist eine polygenetische Prädis­position. Wie der Kopfschmerz vom Spannungstyp gehört Migräne zu den primären Kopfschmerzformen.1

Die Migräne ist eine phasenhaft auftretende komplexe neurologische Regulationsstörung, bei der u. a. neurogene Entzündungsprozesse im Bereich der peripheren trigeminalen Äste sowie zentrale Veränderungen der Schmerzverarbeitung und -regulation eine wichtige Rolle spielen.2 Im Mittelpunkt steht das trigeminovaskuläre System, bestehend aus den trigeminalen Afferenzen und den von ihnen innervierten zerebralen Gefäßen.

Die schmerzhafte Aktivierung trigeminaler Afferenzen hat eine Ausschüttung verschiedener Neuropeptide, wie z. B. ­PACAP (Pituitary adenylate cyclase-activating peptide), VIP (Vasoactive Intestinal Polypeptide), CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) zur Folge (s. Abb. 1).2,3 Für CGRP liegen bereits umfängliche In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen vor. CGRP ist eine stark blutgefäßerweiternde Substanz, die gleichzeitig ein relevanter pronozizeptiver Transmitter in der Pathophysiologie der Migräne ist.3

Während der Migräneattacke wird CGRP vorwiegend aus unbemarkten trigeminalen C-Fasern freigesetzt und führt zu einer neurogenen Entzündung sowie einer Vasodilatation, wobei letztere nicht für die Schmerzhaftigkeit verantwortlich ist.3 Durch eine vermehrte Aktivierung der Nozizeptoren v.  a. auf den gering bemarkten A∂-Fasern kommt es zu einer Sensitivierung des peripheren trigeminovaskulären Systems und zentraler schmerzverarbeitender Strukturen.

Charakteristika und Diagnostik

Bei der Erhebung der Kopfschmerz­anamnese sollten Lokalisation und Stärke der Kopfschmerzen, Schmerzcharakter, Dauer des unbehandelten Anfalls und Häufigkeit über den Monat sowie der Einfluss körperlicher Aktivität auf die Kopfschmerzen und typische Begleitsymptome erfragt werden. Für das Vorliegen einer Migräne sprechen wiederkehrende, pulsierend-pochende Kopfschmerzen von mittlerer bis schwerer Intensität und einer Dauer von vier Stunden bis drei Tagen, die schon bei leichter körperlicher Belastung, Vornüberbeugen oder Kopfschütteln zunehmen. Typischerweise treten Begleitsymptome wie Übelkeit, Erbrechen sowie eine Überempfindlichkeit gegen Licht, Lärm und Gerüche auf. Wenn diese Symptome vorliegen, erhärtet sich der Verdacht auf eine Migräne.1

Für die Dia­gnosestellung sind die Kriterien der ­ICHD-3 (International Classification of Headache Disorders 3rd edition) hilfreich.1 Bei etwa einem Viertel der Patienten* kann eine Migräne-Aura auftreten, ein neurologischer Symptomkomplex mit reversiblen Seh-, Sensibilitäts-, Sprach- oder Wortfindungsstörungen sowie Lähmungserscheinungen.1 Die Aurasymptome gehen der Kopfschmerzattacke meist voran, breiten sich langsam aus und halten fünf bis 60 Minuten an.1

Im nächsten Schritt ist zu klären, ob es sich um eine episodische oder chronische Migräne handelt. Entscheidend hierfür ist die Häufigkeit der Kopfschmerzattacken: Treten die Kopfschmerzen an weniger als 15 Tagen im Monat auf, liegt eine episodische Migräne vor. Eine chronische Migräne ist definiert als Kopfschmerz, der über drei Monate hinweg an ≥ 15 Tagen pro Monat auftritt und an ≥ 8 Tagen die Kriterien einer Migräne erfüllt bzw. erfolgreich wie eine Migräne behandelt wird.1

Wann ist eine Therapie beim Neurologen sinnvoll?

Eine Überweisung des Hausarztes zum Facharzt für Neurologie ist nach den aktuellen Empfehlungen der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e. V. (DMKG) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) besonders in folgenden Fällen ratsam:

  • Erstdiagnose einer hochfrequenten Migräne (≥ 8 Kopfschmerztage/Monat),
  • Diagnose einer chronischen Migräne (≥ 15 Kopfschmerztage/Monat über ≥ 3 Monate, davon acht Migränetage),
  • Versagen von Akuttherapie und/oder ­Prophylaxe,
  • relevante psychische Komorbiditäten,
  • Medikamentenübergebrauch.

Behandlung der Migräne

Die Migränetherapie basiert auf drei Säulen:

  • Akutmedikation zur Beendigung der ­aktuellen Attacke,
  • prophylaktische Maßnahmen zur ­Vorbeugung weiterer Attacken und
  • unterstützende nichtmedikamentöse Maßnahmen.4

Grundsätzlich sollte bei der medikamentösen Behandlung darauf geachtet werden, dass keine Kopfschmerzen infolge eines Übergebrauchs von Schmerz- und Mi­gränemitteln entstehen (MOH = Medication Overuse Headache)4 oder gerade bei chronischer Migräne übersehen werden. Die Grenzen für Analgetikakonsum liegen bei 15 Tagen, für alle anderen Präparate (auch Mischpräparate) bei zehn Tagen.

Akuttherapie der Migräneattacke

Ziel der Akuttherapie ist eine rasche Reduktion der Kopfschmerzen und der Begleitsymp­tome, um die Lebensqualität und Funktionalität zu erhalten und eine Chronifizierung zu vermeiden. Sie basiert – je nach Schwere der Kopfschmerzen und Ausprägung der Begleitsymptome – auf dem Einsatz von Analgetika, nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR), Triptanen und Prokinetika.4 Für die Akuttherapie leichter bis mittelschwerer Migräneattacken empfehlen die S1-Leitlinien der DMKG und der DGN zunächst einfache Analgetika oder NSAR, bei Übelkeit begleitend mit einem Antiemetikum (Metoclopramid und Domperidon).

Bei mittelschweren bis schweren Mi­gräneattacken oder unzureichendem Ansprechen auf die Basisanalgetika ist im nächsten Schritt eine spezifische Therapie mit 5-HT1B/1D-Rezeptoragonisten (sog. Triptanen) angezeigt.

Von den verfügbaren Triptanen (Almo­triptan, Eletriptan, Frova­triptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan) hat Sumatriptan 6 mg s. c. den schnellsten Wirkeintritt zwei Stunden nach Einnahme, gefolgt von 40 mg Elektriptan und 10 mg Rizatriptan.

Um den bestmöglichen Effekt zu erreichen, sollte die Akutmedikation gleich zu Beginn der Migräneattacke eingenommen werden oder wenn der Kopfschmerz noch leicht ist – vorausgesetzt der Betroffene kann seinen Kopfschmerz eindeutig als Migräneattacke identifizieren und begrenzt die Einnahme.4

Bei Migränepatienten mit schwerwiegenden kardiovaskulären Krankheiten sollen Triptane nicht eingesetzt werden.4

Unzureichender Effekt unter Mono­therapie und Wiederkehrkopfschmerz

Bei lange andauernden Migräneattacken kann der Kopfschmerz nach zunächst gutem Ansprechen auf die Akutmedikation innerhalb von zwei bis 24 Stunden nach der Einnahme wieder auftreten (Wiederkehrkopfschmerz). Dieses Problem kann bei Triptanen mit kurzer Halbwertszeit häufiger auftreten als bei solchen mit langer Halbwertszeit (wie Frovatriptan und Naratriptan).4 In diesem Fall kann eine zweite Dosis des zuvor angewendeten Wirkstoffs eingenommen werden – allerdings frühestens zwei Stunden nach Erstapplikation (s. hier auch die jeweiligen Fachinformationen).5

Als Alternative kann sowohl bei Wiederkehrkopfschmerzen, aber auch bei unzureichendem Ansprechen auf eine Monotherapie als auch bei besonders lang anhaltenden Mi­gräneattacken eine Kombination aus einem Triptan mit einem NSAR (z. B. Naproxen 500–1.000 mg) verabreicht werden.4

Migräneprophylaxe

Nichtmedikamentöse Ansätze

Bei niedrigfrequenter Migräne können bereits nichtmedikamentöse Ansätze zu einer wesentlichen Beschwerdereduktion führen. Falls eine medikamentöse Prophylaxe erforderlich ist, sollte diese in einen individualisierten Behandlungsplan integriert werden, der zusätzliche nichtmedikamentöse Therapieansätze wie z. B. Entspannungstechniken, aerobes Ausdauertraining, Physiotherapie, Verhaltenstherapie oder Akupunktur enthält.

Um den bestmöglichen Behandlungserfolg zu erreichen, ist es ratsam, die medikamentöse Migränetherapie in einen individualisierten Behandlungsplan zu integrieren. Auch ein ausbalancierter Tagesablauf mit festen Essens- und Schlafzeiten, regelmäßigem aerobem Ausdauersport und die Vermeidung bzw. der Abbau von Triggerfaktoren können den Betroffenen helfen, Migräneattacken zu vermeiden.

Medikamentöse Migräneprophylaxe

Die Indikation für eine medikamentöse Prophylaxe besteht bei hohem Leidensdruck, Einschränkung der Lebensqualität und dem Risiko eines Medikamentenübergebrauchs.

Zusätzliche Kriterien (nicht evidenzbasiert) sind:

  • ≥ 3 Migräneattacken im Monat,
  • Attacken, die schwer behandelbar sind oder lange anhalten,
  • Attacken, die mit schweren, lang anhaltenden Auren einhergehen.4

Eine Prophylaxe ist sowohl bei episodischer als auch bei chronischer Migräne ratsam, um die Häufigkeit, Schwere und Dauer der Migräne­attacken sowie der damit einhergehenden Einschränkungen des täglichen Lebens zu reduzieren. Zudem ist ein Übergebrauch von Akut­medikation oft Ausdruck einer nicht ausreichenden Prophylaxe. Gerade bei der chronischen Migräne und der hochfrequenten episodischen Migräne ist es wichtig, den „Teufelskreis“ der Chronifizierung mit einer suffizienten vorbeugenden Therapie zu unterbinden.4 Formaler Maßstab für die Wirksamkeit einer prophylaktischen Therapie ist die Reduktion der Attackenhäufigkeit um mindestens 50 %, bei chronischer Migräne um 30 %.4

Substanzen mit unspezifischem Wirkmechanismus

Zu den Medikamenten mit guter Evidenz für eine Migräneprophy­laxe zählen laut Leitlinie die oral anzuwendenden Beta­blocker Propranolol und Metoprolol, das Anti­konvulsivum Topiramat, das Antidepressivum Amitriptylin und der Kalziumkanal­blocker Flunarizin sowie bei chronischer Migräne zusätzlich zu injizierendes OnabotulinumtoxinA.4 Nach einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) darf Valproinsäure zur Migränebehandlung im genehmigten Off-Label-Use verordnet werden, wenn andere zugelassene Präparate nicht wirksam waren. Dies ist jedoch praktisch nicht mehr möglich, da kein Hersteller hierzu seine Einwilligung gegeben hat.6 Während die oralen Präparate unter Berücksichtigung von Kontraindikationen und Warnhinweisen bei beiden Migräneformen eingesetzt werden können, beschränkt sich die Anwendung von Onabotulinumtoxin auf die Prophylaxe der chronischen Migräne mit oder ohne Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln. 

Monoklonale Antikörper gegen CGRP und den CGRP-Rezeptor

Wenn Patienten auf die zuvor genannten Medikamente keine zufriedenstellende Wirkung zeigen, diese nicht verträglich sind oder aufgrund von Kontraindikationen nicht eingesetzt werden können, empfiehlt die Leitlinie der DMKG und der DGN den Einsatz eines der monoklonalen Antikörper gegen das Neuropeptid CGRP (Eptinezumab, Fremanezumab und Galcanezumab) oder den CGRP-Rezeptor (Erenumab).7

Die langen Halbwertszeiten ermöglichen eine einmal monatliche (Erenumab 140 mg, Fremanezumab 225 mg, Galcanezumab 120 mg) oder vierteljähr­liche Gabe (Fremanezumab 675 mg) subkutan. Im Fall von Eptinezumab erfolgt die Gabe vierteljährlich intravenös. Zugelassen sind die vier monoklonalen Antikörper für die Behandlung von Erwachsenen mit ≥ 4 Migränetagen/Monat.7

Verordnungsfähig sind sie im Detail aber nur, wenn zuvor jeweils eine Substanz aus den Wirkstoffgruppen Betablocker (Metoprolol oder Propranolol), Flunarizin, Topiramat oder Amitriptylin sowie OnabotulinumtoxinA bei chronischer Migräne nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder von vornherein kontraindiziert waren.

Erenumab kann im Rahmen einer bundesweiten Praxisbesonderheit vorrangig verordnet werden, wenn eine der zuvor genannten Therapien nicht wirksam war oder nicht vertragen wurde oder gegen alle Therapien Kontraindikationen bestanden.
 

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des CME-Beitrags „Diagnose, Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne“

Den Artikel sowie den Frage­bogen zur Fortbildung finden Sie hier

Die Teilnahme ist bis zum 20.11.2023 möglich. Sammeln Sie 3 CME-Punkte!


Literatur:
1 Headache Classification Committee of the International Head­ache Society. The International Classification of Headache Disorders ICHD-3, 3rd edition. Cephalalgia 2018;38: 1–211.
2 Puledda F et al. An update on migraine: current understanding and future directions. J Neurol 2017; 264: 2031–2039.
3 Messlinger K et al. CGRP and NO in the trigeminal system: mechanisms and role in headache generation. Headache 2012;52: 1411–1427.
4 Diener HC, Förderreuther S, Kropp P et al. Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2022, DGN und DMKG. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie.
5 Henning V et al. Remission of chronic headache: Rates, potential predictors and the role of medication, follow-up results of the German Headache Consortium (GHC) Study. Cephalalgia 2018;38: 551–560.
6 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Einleitung eines Stellungnahmeverfahrens zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage VI (Off-Label-Use) – Valproinsäure zur Migräneprophylaxe bei Erwachsenen vom 06.08.2019; www.g-ba.de/downloads/39-261-3911/2019-08-06_AM-RL-VI-SN_Valproinsaeure-Migraeneprophylaxe.pdf (letzter Aufruf: Juli 2022).
7 Diener H-C et al. Prophylaxe der Migräne mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor. Ergänzung der Leitlinie 030/057 Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. 2019.

PD Dr. med. Tim P. Jürgens

Facharzt für Neurologie

Chefarzt der Klinik für Neurologie am KMG Klinikum Güstrow

T.Juergens@kmg-kliniken.de

PD Dr. med. Gudrun Goßrau

Fachärztin für Neurologie – Spezielle Schmerztherapie

Leiterin der Kopfschmerzambulanz,

Interdisziplinäres Universitätsschmerz­centrum, Universitätsklinikum Dresden

Interessiert an neuen Fortbildungen oder Abrechnungstipps?

Abonnieren Sie unseren Infoletter.
 

Zur Infoletter-Anmeldung

x
Newsletter-Anmeldung