Einsatzmöglichkeiten von Cannabis in der hausärztlichen Praxis

Seit der Legalisierung von Cannabis im deutschen Gesundheitssystem sind nun mehr als drei Jahre vergangen. Will man ein erstes Resümee nach der Legalisierung von Cannabis als Arzneistoff ziehen, könnte es in 2020 lauten: Diese Pflanze hat Potenzial, doch herrscht immer noch großer Aufklärungsbedarf. Warum das so ist? Anders als bei der Neueinführung von einem Rx-Medikament, das prä- und klinische Phasen durchschreiten muss, ist das Vorgehen bei Cannabis ein absolutes Novum. Bis auf drei verschreibungsfähige Arzneimittel befinden wir uns derzeit in einer Phase der No-Label-Anwendung, ohne Evidenzen. Trotzdem steigt die Anzahl der Verordnungen auch durch aktive Anfragen der Patienten. Neben der Kenntnis der cannabisbasierten Medikamente und deren Einsatzmöglichkeiten, ist es umso wichtiger, dass der behandelnde Arzt sich gut informiert, um mit dem Patienten eine individuelle und zielführende Therapie zu entwickeln.

Derzeit wird Cannabis in Deutschland u. a. bei (chronischen) Schmerzen sowie Multiple Sklerose-bedingten Spastiken verabreicht. Ein weiterer Einsatzbereich ist die Onkologie, wo Cannabis bei Tumorkachexie, Hyper­emesis sowie Schmerzen verschrieben wird. Der Aufklärungsbedarf ist gerade in der haus­ärztlichen Praxis aber noch sehr hoch. Zwar wissen viele Ärzte, dass Cannabis einen hohen therapeutischen Nutzen bietet und in vielen Fachbereichen verschrieben werden kann, doch sind sie noch zögerlich, weil ihnen oft der Kenntnisstand im Detail fehlt. In anderen Ländern, wie z. B. Kanada, Israel, Spanien und Italien, ist Cannabis in vielen Medikationsplänen teilweise bereits integriert.

In vielen Ländern präsent und selbstverständlich

Dass die Schmerzlinderung eines der Hauptindikationsgebiete von cannabis­basierten Arzneimitteln ist, ist weltweit bekannt. Auch in Deutschland werden fast 70% der verordneten cannabis­basierten Medikamente zur Schmerz­therapie eingesetzt (­„Erste Erkenntnisse aus der Begleit­erhebung“, Dr. med. Peter Cremer-Schaeffer, 09.05.2019). Grund hierfür ist vor allem die Tatsache, dass zu dieser Indikation mit Abstand die meisten Studien vorliegen. Schaut man sich die Erfahrungsberichte aus Ländern wie Israel, Kanada und einigen Ländern Lateinamerikas an, wird schnell klar, dass die Schmerztherapie nicht das einzige Einsatzgebiet für medizinisches Cannabis ist. Bei Verwendung der korrekten Kombination von Terpenen und Cannabinoiden, können diese z. B. auch bei chronisch entzündlichen Darm­erkrankungen, Endometriose und in der Psychiatrie eingesetzt werden. Zudem gibt es Behandlungspotenzial bei stress­bedingten Krankheiten wie Migräne, Reizdarm, Psoriasis bis hin zu Schlaflosigkeit.

Sicherheit und Routine für den Hausarzt

Die Vorteile für den Patienten bei Einnahme von Cannabis sind generell gut belegbar: Diese reichen von den geringen Nebenwirkungen und dem geringen Abhängigkeitspotenzial bis zur Reduktion von starken Schmerzmedikationen. Momentan fehlt es oft noch an der täglichen Praxis: Wird Tetrahydrocannabinol (THC) und/oder Cannabidiol (CBD) eingesetzt? Welche Dosierung und Darreichungsform gibt es für mögliche Indikationsgebiete? Ziehe ich eine Mono- oder eine Kombinationstherapie vor? Gibt es Kontraindikationen? Welche rechtlichen Aspekte und Erstattungsprozesse bei der Krankenkasse muss ich beachten? Für Apotheken stehen Lagerung, Dokumentation und Herstellung im Fokus – also noch viele Fragezeichen für den Alltag in Praxis und Apotheke.

Eine Ärztin, die sich mit der Anwendung von Cannabisarzneimitteln gut auskennt, ist die Allgemeinmedizinerin und Schmerztherapeutin Angelika Hilker.

Frau Dr. Hilker, was empfehlen Sie dem Erstverordner?

In der Regel geht es zunächst darum, die medikamentöse Klaviatur einer Schmerztherapie gut zu kennen und im Vorfeld eine sichere Schmerzanamnese vornehmen zu können. Ich denke das Problem ist, dass oft die Erfahrung und damit nötige Evidenzen (z. B. Dosierung, Kostenübernahme) fehlen, die dem behandelnden Arzt und dem Patienten Sicherheit geben. Cannabis entwickelt sich aus der globalen Sicht auch medikamentös zu einem „Hype“ und der Patient entscheidet sich oftmals aktiv für diese Therapie. Hier steht die Routine an oberster Stelle.

Worin sehen Sie die größten Vorteile bei der Gabe von Cannabis?

Ein ganz klarer Vorteil sind die nicht vorhandenen bzw. äußerst geringen Nebenwirkungen, die gerade bei Patienten mit einem umfangreichen Medikationsplan relevant sind. Cannabinoide im medizinalen Einsatz scheinen zudem keine Abhängigkeit zu verursachen. Je nach verordnetem cannabisbasierten Medikament kann es eine psychisch ausgleichende, schlaffördernde und muskelentspannende und teils antidepressive Wirkung vorweisen. Vorteile sind eine gleichzeitige Appetitförderung bei kachektischen Tumorpatienten oder bei Übelkeit und Erbrechen (z. B. bei Chemo­therapie).

Welche Patienten behandeln Sie mit Cannabis?

Vor allem chronische Schmerzpatienten und Tumorpatienten. Und Patienten, die bereits medikamentös austherapiert sind, d. h. es wurde bereits mehrfach versucht leitliniengerechte Medikamentengruppen anzuwenden ohne weiteren Erfolg. Steigend sind auch alte Patienten, bei denen ich Koanalgetika aufgrund der Nebenwirkungen reduzieren muss. Vermehrt kommen auch Patienten aktiv auf mich zu und wünschen sich den Einsatz von Cannabis, weil sie gerne die Opioid- oder Antikonvulsiva-Medikation wegen möglicher Abhängigkeit und Nebenwirkungen reduzieren möchten.

Wie soll der Arzt reagieren, wenn ein Patient mit einer weniger erprobten Indikation nach Cannabis fragt, z. B. Reizdarm oder chronischen Darmerkrankungen?

Da es sich um eine No-Label-Verordnung handelt, können Cannabinoide in Kombination oder singulär bei unterschiedlichen Krankheiten eingesetzt werden. Gerade die antiinflammatorische Wirkung des CBD oder die Schmerzlinderung durch das THC lassen Möglichkeiten in unterschiedlichen Indikationsgebieten mit guten Ergebnissen zu. Hierfür ist es essenziell, dass sich der Arzt gut auskennt und die Eindosierungsphase besonnen vornimmt („Start low, go slow“).

Schmerzpatienten haben oft einen umfangreichen Medikamentenplan. Wie kann Cannabis hier unterstützend eingesetzt werden?

Mit den cannabisbasierten Medikamenten kann häufig die Dosis der Opioide sowie die Koanalgetika-­Dosierung reduziert oder sogar teilweise ganz eingespart werden. Die Vorteile liegen also ganz klar in der Reduktion der Polypharmazie.

Welche Vorkenntnisse benötigt der Arzt, welche das Praxisteam?

Meiner Meinung nach sollte der Arzt eine gute Vorkenntnis über die wesentliche Wirkung von THC und CBD haben. Wie bei anderen Arzneistoffen auch, sollte er über Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sowie über die rechtlichen und administrativen Aspekte (BTM-Rezept, Antrag auf Kostenübernahme) informiert sein. Da es sich um ein neues Gebiet handelt, ist es hilfreich, sich mit einem entsprechenden Kollegen in Verbindung zu setzen, sich über den Patienten auszutauschen und mit ihm zusammenzuarbeiten.

Unterschiedliche Wirkstoffe, deren Verhältnis und Darreichungsform erschweren die Auswahl. Welche empfehlen sie und wo kann sich der Arzt umfassend informieren?

Ich verwende derzeit am liebsten Cannabis-Vollextrakte mit entsprechend hohen Wirkstoff-Gehalten an THC und CBD und bei entzündlichen Erkrankungen gerne einen Vollextrakt mit einem sehr hohen CBD-Anteil. Diese Vollextrakte dienen als Basis und können insbesondere für alte Patienten noch weiter verdünnt werden, sodass sie in der Eindosierungsphase (Titration) sehr gut verträglich sind. Cannabisblüten verwende ich aufgrund der schnellen Anflutungsphase, also der sehr schnellen Freisetzung, insbesondere als additive Medikation. Gerade verordne ich indikationsbedingt gerne auch Cannabisblüten in der Kombination: Ich empfehle Patienten einen Vollextrakt als Basis und Cannabisblüten als On-Top-Medikation dazu.

Darreichungsformen: Blüten, Extrakte, Beides?

In der Cannabispflanze konnten bisher über 500 Inhaltsstoffe nachgewiesen werden. Dazu zählen u. a. Cannabinoide, Proteine, Aminosäuren, Terpene, Zucker, Alkohole, Flavonoide, Vitamine, Hydrocarbone, Aldehyde und Fettsäuren. Jedoch kommen nicht alle Bestandteile zusammen in einer Pflanze vor. Die Zusammensetzung ist auch abhängig von der Gattung der Cannabispflanze (Indica, Sativa). In den meisten Pflanzen kommen nur 3–4 Cannabinoide in höherer Konzentration vor. Für medizinische und therapeutische Anwendungen sind THC und CBD derzeit von entscheidender Bedeutung. Welche Darreichungsform in Betracht kommt, hängt im Einzelfall von der beabsichtigten Wirkweise und Wirkdauer ab und sollte immer gemeinsam mit dem Patienten individuell eingestellt werden. Denken Sie auch daran, Ihren Patienten zusätzlich zum Rezept das jeweilige Titrationsschema aufzuzeigen und im Gespräch zu erläutern.

Vollextrakte

Bei den Cannabis-Vollextrakten wie auch THC als Reinsubstanz und Dronabinol erfolgt die Anpassung der Medikamentendosis schrittweise, bis das gewünschte therapeutische Ziel erreicht ist. Durch die langsame Steigerung der Dosis ist die Wirkung von Cannabis besser kontrollierbar. Das Risiko einer Überdosierung sowie das Abhängigkeitspotenzial sind patientenindividuell unterschiedlich, im Durchschnitt aber als gering einzustufen.

Blüten

Wichtig ist eine einschleichende Dosierung. Begonnen werden sollte mit einer Anfangsdosis von 25–50 mg ­Cannabisblüten. Je nach Wirksamkeit und Verträglichkeit erfolgt alle 1–3 Tage eine Steigerung um zirka 2,5–5 mg THC – je nach Sorte entsprechend 25–100 mg Cannabis. Die Tagesdosen von THC-reichen Cannabissorten liegen im Mittel bei 0,2–3 g.

Liste der Blüten: www.cannabis-med.org/nis/data/file/cannabissorten_inhaltsstoffe.pdf

 

Begleiterhebung: Fazit der Zwischenauswertung

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist mit dem Gesetz beauftragt worden, eine nicht interventionelle Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabis­arzneimitteln durchzuführen. Die Daten dieser Zwischenauswertung zur Begleiterhebung bestätigen „Schmerz“ als Hauptindikation zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln, die sich sowohl aus der verfügbaren Literatur als auch aus den Daten der etwa 1000 Patienten ergibt, die in den Jahren 2005 bis 2016 therapiert werden konnten. Während sich die Indikationen „Spastik“ sowie „Anorexie“ in den Indikationslisten der zugelassenen Cannabisarzneimittel finden, stehen zur Behandlung von Schmerzen bisher keine Fertigarzneimittel auf Cannabisbasis zur Verfügung. Für eine bessere Evidenz in den Anwendungsgebieten sollte die Meldequote in der Begleiterhebung gesteigert werden.

Titrationsschemas für den Einsatz in der Praxis

Der Einsatz von Cannabisarzneimitteln birgt viele Vorteile für verschiedene Patientengruppen, verlangt aber auch eine fundierte Kenntnis des Arztes. Denn: Es geht nicht nur um die Darreichungsform, sondern auch und gerade um die patientengerechte Dosierung. Hierfür stehen eine große Anzahl von Blüten, Rein- und Vollextrakten sowie Arzneimittel zur Verfügung. Alle Darreichungsformen bieten unterschiedliche Konzentrationen von THC und CBD, die je nach Indikationsgebiet im Laufe der Therapie eingesetzt, addiert und ausgetauscht werden können – je nach Verlauf der jeweiligen Pathogenese. (s. Tabelle)

 

 

Der geriatrische Patient

Der onkologische Patient

Der Schmerzpatient

Typische Symptome

Polymedikation, Wechselwirkungen, Nebenwirkungen, Begleiterkrankungen (kardial, renal), COPD, Diabetes

Tumorkachexie, Emesis,
Polyneuropathie, Depression, tumor­bedingter Schmerz, Angst und Paniksymptomatik, Attackenschmerz, Tumor­durchbruchschmerz

Neuropathischer Schmerz, nozizeptiver Schmerz, akuter Schmerz, chronischer Schmerz, Attackenschmerz, Depression, Schlaflosigkeit, Magenschmerzen, Polypharmazie

Zusatzmedikation Cannabis

+ ausgleichend

+ Reduktion von Opiaten

+ Einsparung von Schlafmedikation

+ Reduktion von Nebenwirkungen

+ nicht atemdepressiv

+ schnelle Schmerzreduktion durch Blüten

+ kontinuierliche Schmerzreduktion durch Vollextrakte

+ appetitsteigernd

+ antiemetisch

+ antidepressiv

+ schmerzreduzierend

+ schlaffördernd

+ antidepressiv

+ Reduktion von Schmerzmedikation

+ Reduktion von Nebenwirkungen

Dosierung

z. B. Vollextrakt THC/CBD 10/10 (einschleichend)

z. B. Blüten THC & Voll­extrakt THC o. THC/CBD

z. B. Vollextrakt THC/CBD 10/10

 

Cannabis als integratives Arzneimittel

Wenn es darum geht, welche Darreichungsform für welche Indikation geeignet ist, ergibt sich eine noch recht dürftige Forschungslage. Insgesamt fehlt es noch an einer ausreichenden Zahl kontrollierter Studien, die verschiedene Medikationen vergleichen. Darüber hinaus ist zu erforschen, wie die einzelnen Cannabinoide, Terpene und Flavonoide – auch in ihrem Zusammenspiel – genau wirken. Dennoch lässt sich bei derzeit ca. 60.000 Patienten feststellen, dass Cannabisarzneimittel zukünftig einen (integrativen) Bestandteil im Medikamentenplan haben können und den anfänglichen Hype im Hinblick auf Heilung mit Evidenzen belegen können.

Barbara Eckart

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