Ausblick: Informierte Medizin heute und morgen

Teil 3 Wissenschaftlichkeit in Digital Health

In den ersten beiden Beiträgen der Serie haben wir einen Schulterblick auf die Gesundheitsversorgung geworfen und die Evaluation von DiGA und die Vorteile ihrer Nutzung für Ärzte und Patienten beschrieben. In diesem Beitrag wollen wir Antworten auf die Frage liefern: Wo und wie werden zukünftig Gesundheitsdaten generiert und wie kann die Wissenschaft davon profitieren? Wir beleuchten Ängste von Patienten und Ärzten sowie die Vorteile, die durch datengetriebene Forschung geschaffen werden können.

Das deutsche Gesundheitswesen befindet sich in mehreren Umbrüchen, die parallel ablaufen und sich gegenseitig beeinflussen. Daten und Privatsphäre, die Spannungsfelder Nachhaltigkeit und Digitalisierung sowie der demographische Wandel werden uns künftig stärker beschäftigen. Im Zentrum dieser Trends stehen auch die Gesundheitsdaten. Mit der alternden Gesellschaft erleben wir einen Anstieg medizinischer Eingriffe: Die Zahl der Behandlungsfälle in den Krankenhäusern zwischen 2009 und 2017 stieg laut Bundesärztekammer von 17,8 auf 19,9 Millionen.1 In der Pflege soll sich Schätzungen zufolge die Versorgungs­lücke bis zum Jahr 2035 auf insgesamt knapp 500.000 Fachkräfte vergrößern.2 Um den damit einhergehenden wachsenden Bedarf an medizinischen Informationen zu decken, sucht schon heute eine Vielzahl an Patienten und Angehörigen online nach Symptomen und Therapiemöglichkeiten. Ihre Daten landen dort, wo sie nicht der Wissenschaft nutzen: Bei den Unternehmen hinter der Suchmaske. Dabei können diese Daten einen wichtigen Beitrag leisten – wenn sie durch die richtigen Institutionen gesammelt werden und Patienten entscheiden dürfen, ob und wie die Daten verwendet werden.

Im Kern des Wertversprechens der Daten: Eine informiertere Medizin und neue Präventions- und Therapiemethoden, deren Wirksamkeit durch Real-World-Daten (RWD) nachgewiesen wird. Doch es entstehen auch Unklarheiten. Diese gilt es zu klären und Ängste abzubauen, um die breite Masse von Nutzern von den Mehrwerten der Datennutzung zu überzeugen. Was heißt das konkret? 

Daten und das neueste Digitalisierungsgesetz

Die Weichen für die Nutzung von RWD sind bereits gestellt und werden mit den aktuellen Entwicklungen in der Gesetzgebung beschleunigt. Seit September kursiert ein Eckpunktepapier aus dem Bundesministerium für Gesundheit für das Digitale Versorgung und Pflege Modernisierungsgesetz (DVPMG), als Grundlage für das Nachfolgegesetz des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG). Das Papier gibt einen Ausblick darauf, wie Gesundheitsdaten künftig entstehen und verarbeitet werden. So sollen neben DiGA zukünftig auch Digitale Pflegeanwendungen (DiPA) in die Regelversorgung aufgenommen werden. Die KVen werden den Auftrag erhalten, Standards für versorgungsrelevante Datenauszüge aus DiGA und DiPA zu definieren (sog. Medizinische Informationsobjekte, MIOs). Der Bereich der Telemedizin soll ausgeweitet werden. 

ePA als zentraler Baustein der TI

Gleichzeitig wird die Telematikinfrastruktur (TI) voll funktionsfähig. Zentraler Baustein der TI ist die elektronische Patientenakte (ePA). Ab 2021 sind alle Krankenkassen dazu verpflichtet, ihren Versicherten eine ePA anzubieten. Sie ermöglicht eine (freiwillige) institutions- und fallübergreifende Dokumentation und ist patientenzentriert. Damit wird erstmalig die Kontrolle über die Gesundheitsdaten ausschließlich bei den Patienten liegen. Nur sie dürfen bestimmen, wer auf die in der ePA gespeicherten Daten zugreifen kann. Das bedeutet: Ärzte und Krankenkassen können nicht ohne Zustimmung auf die Daten der Patienten zugreifen.

Durch diese Entwicklungen wird die Gesundheitsversorgung also vernetzter aufgestellt und das Gesundheitswesen unterzieht sich einem strukturellen Wandel (s. Teil 1 der Beitragsserie).

TI und der Nutzen für Ärzte und Gesellschaft

Für Niedergelassene ergeben sich dadurch neue Bedingungen. So wird z. B. die Erstbefüllung (und Pflege) der Akte insbesondere durch Ärzte erfolgen. Zwar werden Mehraufwände vergütet, aber der wirkliche Nutzen kann auf den ersten Blick unklar sein. Doch die ePA (und auch die weiteren TI-Anwendungen) können einen echten Mehrwert für Ärzte und Wissenschaft leisten. So können sie, wenn ihnen der Patient die Freigabe erteilt, auf die Daten zugreifen, die ärztliche Kollegen hinterlegt haben. Künftig soll auch der elektronische Medikationsplan (eMP) in die ePA integriert werden. Damit können Informationen zur Medikation und zu Unverträglichkeiten des Patienten schnell abgerufen werden und die Arzneimitteltherapie-Sicherheitsprüfung (AMTS) durchgeführt werden.

Vorteile ergeben sich durch die neuen technischen Möglichkeiten auch aus dem Remote-Monitoring und der Entlastung von Krankenhäusern und Ärzten bei der Behandlung aus der Ferne (s. Tab.). Hybrid-­Modelle, in der technisch-geschulte Arzthelfer die Besuche für den Arzt durchführen und Aufgaben wie Pulsmessung übernehmen, existieren bereits und können sich durch die bevorstehende Ausweitung der Abrechnungsmöglichkeiten von telemedizinischen Leistungen positiv auf die Versorgung ländlicher Regionen auswirken. 

Mit der TI soll also ein „Ökosystem“ der Gesundheitsdaten in Deutschland entstehen, das sich künftig geschützt vor privatwirtschaftlichen Interessen weiterentwickeln kann. Denn die Sicherheit der hochsensiblen Gesundheitsdaten ist – insbesondere in Deutschland – von hoher Priorität. Die Nutzung der sensiblen Daten durch die falschen Akteure, wie z. B. Werbeunternehmen, könnte sich negativ auf die Patienten auswirken. Gleichzeitig könnten sensible Daten aus Praxen wie Befunde über bestehende Sicherheitslücken entwendet werden, warnt etwa der Chaos Computer Club (CCC).3 Auch Krankenhäuser werden immer häufiger Opfer von Hacker-Angriffen.4 Um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sicherzustellen, müssen letztere in einer digitalen Welt auch darauf vertrauen können, dass die Sicherheit und Geheimhaltung der Gesundheitsdaten gewährleistet wird. 

Wie können Wissenschaftlichkeit und Evidenz in diesem Öko­system weiter gelebt werden?

Zugleich können durch die Strukturierung und Interoperabilität der Gesundheits­daten große Vorteile entstehen: Das Patientendaten-­Schutz-Gesetz (PDSG) ermöglicht Patienten ab 2023 eine freiwillige Datenspende für die Forschung in anonymisierter oder pseudonymisierter Form. Die Tür zu mehr Forschung und Wissenschaft mithilfe von RWD wird dadurch weit aufgestoßen. 


Wege, auf denen Real-World-Daten künftig  erhoben werden können:

  • Durch Daten, die von Ärzten und Patienten in die ePA eingepflegt werden.
  • Durch die Nutzung von DiGA/DiPA und die daraus entstehenden Therapieberichte.
  • Komplexere Messungen, die vom Patienten unter telemedizinischer Begleitung durchgeführt werden (z. B. ein korrekt durchgeführter SARS-CoV2-Abstrich).
  • Mithilfe von wissenschaftlich anerkannten Fragebögen, welche per Smartphone ausgefüllt werden.
  • Fortschritte in der technologischen Entwicklung der Sensorik führen zu mehr Daten (z. B. entstehen durch die Nutzung von Wearables Bewegungsdaten, Daten zu Puls und Sauerstoffsättigung sowie EKG).

Neben der Erhebung von RWD wird künftig auch die Analyse von RWD digital gestützt erfolgen. Durch die Informationsflut an Gesundheitsdaten und Real World Evidence (RWE) könnten bisher unbekannte Einsichten gewonnen werden.

KI-gestützte Analysen könnten Kausalitäten überprüfen und Korrelationen erkennen. Dabei wird wichtig sein, dass erkannte Korrelationen nicht automatisch mit Kausalitäten gleichgesetzt werden. Ärzte werden bei dieser Unterscheidung eine wichtige Rolle spielen.

Licht und Schatten

Zusammenfassend stellen wir fest, dass wir uns im Bezug auf Daten im Gesundheitswesen von Schwarz-Weiß-Szenarien verabschieden müssen. Wir erleben vielmehr einen Prozess, den es – siehe Datenschutz – stetig zu verbessern gilt. Bezogen auf DiGA sind die geltenden Datenschutzanforderungen bereits als sehr hoch einzustufen (s. Mini-FAQ DiGA).

 

Tab.: Vorteile der Digitalisierung für die Akteure im Gesundheitswesen
 

ePA (2021)

Digitale Therapeutika

Telemedizin

Kommunikation

eMP, eRezept,
Notfalldaten, Arztbrief

DiGA (2020)
DiPA (2021)

Videosprechstunde
Telemonitoring

Telekonsultation
Befundermittlung

Ärzte

Übersicht wird erhöht,
informierte Entscheidungs­findung

s. Teil 1 der Beitragsserie

Mehr Leistungen können
abgerechnet werden,
deutschlandweite Versorgung

Sichere und schnelle Kommunikation mit anderen Ärzten, Krankenhäusern und
Dienstleistern (z. B. Labore)

Patienten

Kontrolle über eigene Gesundheitsdaten, Klarheit über verschriebene Medikamente

s. Teil 1 der Beitragsserie

Weniger Wege im Krankheitsfall, weniger Ansteckungsgefahr durch Wartezimmer

Schnellere Kommunikation kann zu schnellerer Behandlung führen

Krankenhäuser

Übersicht über Patienten,
informierte Entscheidungs­findung

Nachsorge von entlassenen Patienten besser möglich und dadurch stärkere Patienten­bindung

Sonst belegte Betten werden verfügbar,
Ausweitung von teilstationären Behandlungen

Kommunikation innerhalb des Krankenhauses und mit
externen Partnern (z. B. Labore und ambulanter Sektor)

Krankenkassen

Kosteneinsparungen,
passgenaue Bedarfsplanungen möglich

Versorgungsauftrag kann
orts- und zeitunabhängig
erfüllt werden

Erweitertes Leistungsangebot

Langfristig Kosteneinsparungen

Der konstruktive Austausch der Akteure wird über Erfolg oder Misserfolg digital gestützter Medizin entscheiden: Organisationen außerhalb des Gesundheitssystems – wie z. B. der CCC – müssen stärker in die Debatte und den Prozess einbezogen werden und stellen einen zusätzlichen Sicherheitsmechanismus dar.5 Am Ende ist eines klar: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen soll nicht zum Zweck der Digitalisierung, sondern zur Unterstützung der Patienten und Ärzte dienen – der Mensch muss deshalb weiterhin im Vordergrund stehen.

Was können Ärzte heute machen? 

  1. Definieren Sie Ansprüche, wie Sie selbst mit Technik umgehen möchten und wie Sie diese in ihren Praxisalltag integrieren können.
  2. Fordern Sie von Ihren Verbänden und Organisationen ein, dass sachliche Informationen zu diesem Thema klar kommuniziert werden. So wird der Mehraufwand für Sie reduziert.
  3. Suchen Sie Kongresse zu dem Thema „Digital Health“ auf. Mittlerweile können diese meist online verfolgt werden. 

► Wenn Sie weitere Fragen und/oder Interesse an einem Austausch haben: Treten Sie gerne mit uns in Kontakt. 

1 Bundesärztekammer, 2017, Ergebnisse der Ärztestatistik zum 31. Dezember
2 Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, 2020, Bedarf an Pflegekräften in Deutschland bis 2035
3 CCC, www.ccc.de/de/updates/2019/neue-schwachstellen-gesundheitsnetzwerk
4 CNN edition.cnn.com/2020/10/28/politics/hospitals-targeted-ransomware-attacks/index.html
5 mednic.de/ccc-kritisiert-patientendaten-schutz-gesetz/14257

 


Mini-FAQ zu DiGA

1. Wie werden DiGA verordnet?

DiGA können von Ärzten und Psycho­therapeuten verordnet werden. Die Verordnung erfolgt analog zu Arzneimitteln. Das heißt, dass jede DiGA eine Pharmazentralnummer (PZN) besitzt. Die jeweilige PZN finden Sie in Ihrem Praxisverwaltungssystem (PVS). Über die PZN sind sowohl die Diagnose als auch die Verordnungsdauer verschlüsselt. Über das Muster 16 wird die DiGA unter Angabe der Bezeichnung der Anwendung und der PZN an den Patienten verordnet. Der Patient muss dieses Rezept dann bei seiner Krankenkasse einreichen (digital oder analog) und erhält von dieser einen Freischaltcode um die DiGA kostenfrei nutzen zu können. Anders als bei Arzneimittelverordnungen können Versicherte auch direkt über ihre Krankenkasse eine DiGA verordnet bekommen. Dazu muss ein Nachweis der entsprechenden Indikation selbst bei der Krankenkasse vorliegen. Der Arzt oder Psychotherapeut muss hierfür keine Befunde zur Verfügung stellen. Die Verordnung der DiGA ist für alle gesetzlichen Krankenkassen gleich.

2. Wie funktioniert die Einbindung in das PVS?

Eine vom BfArM zugelassene DiGA ist gelistet in den bekannten Datenbanken für Arzneimittel. Der Hersteller hat die DiGA über eine (oder mehrere) PZN bei der Informationsstelle für Arzneispezialitäten (IFA) gelistet. Über die regelmäßigen Updates ihrer Informationssysteme (gemäß AVWG-Katalog) sind die PZN in den jeweiligen Arzneimitteldatenbanken der Arztpraxen vorzufinden. Da auch die Einfügung der Daten über die Arzneimitteldatenbank Zeit in Anspruch nehmen kann, wird in den ersten Monaten des DiGA-Verzeichnisses ggf. eine händische Verordnung erforderlich sein.

3. Ist die Verordnung wirtschaftlich vertretbar?

Ärzte müssen bei der Erbringung bzw. Verschreibung von Leistungen das Wirtschaftlichkeitsgebot beachten (§ 12 SGB V). Demzufolge müssen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Der Gesetzgeber nimmt bei den Leistungen jedoch keine Einschränkungen vor, sodass auch DiGA mit dazu zählen können. Insofern gelten für DiGA dieselben Kriterien zur Bestimmung der Wirtschaftlichkeit. Dabei beschränkt sich die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nicht allein auf den Preis. Vielmehr ist hier eine Kosten-Nutzen-Betrachtung vorzunehmen. Mehrkosten im Vergleich zu anderen Behandlungsmöglichkeiten dürfen nicht unangemessen hoch sein. Der Nutzen bemisst sich nach dem Behandlungsbedarf des Patienten, wobei auch die Nachhaltigkeit der Behandlungsmethode und die damit erreichte Lebensqualität in die Betrachtung eingehen sollte. Sofern durch die Leistung weitere Kosten durch andere Behandlungen vermieden werden können, so erhöht dies die Wirtschaftlichkeit entsprechend. Insofern ergeben sich für den Einsatz von DiGA keine Unterschiede für die Grundsätze der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung. Allerdings werden Ärzte nicht umhin kommen, sich eingehend über die jeweiligen DiGA zu informieren, damit sie die einzelnen Aspekte der Wirtschaftlichkeit abwägen können. 

4. Wie ist der Datenschutz geregelt?

DiGA müssen strengere Datenschutz­anforderungen als frei auf dem Markt befindliche Gesundheits- oder Medizin- apps erfüllen. Es gibt klare Vorgaben zu welchen Zwecken personenbezogene Daten verarbeitet werden dürfen. Weiterhin wird der Standort der Datenverarbeitung auf nur wenige gesetzlich festgelegte Gebiete beschränkt. So ist etwa eine Verarbeitung im nicht-europäischen Ausland, etwa über US-amerikanische Server, in fast allen Fällen untersagt. Zudem sind alle DiGA-Hersteller zukünftig dazu verpflichtet, die Datensicherheit über ein zertifiziertes Informationssicherheitsmanagementsystem (ISMS) nachzuweisen. ISMS sind aufwendige Managementsysteme, welche die Datensicherheit durch hohe Anforderungen an technische und organisatorische Maßnahmen sowie regelmäßige Überprüfungen und Verbesserungen sicherstellen. In Deutschland wurden bisher nur Unternehmen und Branchen zur Einführung eines ISMS verpflichtet, die zu den kritischen Infrastrukturen gerechnet werden (z. B. Banken, Energie- und Wasserversorger). Falls sie mehr Interesse am Thema „Datenschutz“ haben, werfen Sie einen Blick in die Datenschutzerklärung eines DiGA-Herstellers.


Stand: Dezember 2020

Paul Amler
Studierter Volkswirt, er macht Strategieberatung bei TLGG Consulting mit Fokus auf die Gesundheitsbranche.
paulamler@tlgg.de

Dr. Victor Stephani
Chief of Staff bei dem DiGA Hersteller ­HelloBetter und dort für die Umsetzung des DVG verantwortlich. www.hellobetter.de
v.stephani@hellobetter.de