Erkrankungen des Nervensystems – Welche Rolle spielt Vitamin B12?

Die bei einem Vitamin-B12-Mangel auftretenden Störungen von Blutbildung und Nervensystem können mit schwerwiegenden Erkrankungen verbunden sein. Während die Blutbildveränderungen zwar nicht obligat, aber charakteristisch sind und die Diagnose eines Vitamin-B12-Mangels bestätigen, sind die neurologischen Störungen vielfältiger und werden oft nur unzureichend als Folgen eines B12-Mangels erkannt.

Laut Augsburger KORA-Age-Studie sind rund ein Drittel der Menschen über 65 Jahre von einer Vitamin-B12-Unterversorgung betroffen. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko: bei den 85- bis 93-Jährigen sind es 37,6 %.1

„Ein unerkannter Vitamin-­B12-Mangel kann ernsthafte neurologische Erkrankungen nach sich ziehen“, warnt der Neurologe Prof. Karlheinz Reiners, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Gesellschaft für Biofaktoren mit Sitz in Stuttgart. Bei einem Mangel kommt es zu Leitungsstörungen der Nervenbahnen, besonders im Hinterstrangsystem des Rückenmarkes (funikuläre Myelose), aber auch in den peripheren sensiblen Nervenfasern mit der Folge einer Neuropathie-Entwicklung. „Typische Beschwerden sind Störungen der Tiefensensibilität, Gang- und Standunsicherheit sowie ein Einschnür- oder Manschettengefühl an Unterschenkeln und Fußgelenken“, warnt Prof. Reiners.

Erhöhtes Demenz-Risiko

Bei einem Vitamin-B12-Mangel kann es zudem zu zerebralen Störungen mit Verwirrung, Stupor, Stimmungsschwankungen, Apathie und Gedächtniseinbußen kommen. Ein Mangel an dem Biofaktor kann mit signifikant geringeren Gedächtnisleistungen und einer Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit verbunden sein2 und zählt zu den häufigsten Ursachen einer behandelbaren Demenz.3,4 Vaskuläre Demenzen stehen in Zusammenhang mit einem erhöhten Homocystein-Blutspiegel, der durch eine Vitamin-B12-Supplementierung – in Kombination mit Vitamin B6 und Folsäure – gesenkt werden kann.5,6

Depression und Vitamin-B12-Mangel

►Informationen hierzu finden Sie im Beitrag „Volkskrankheit Depression – Welche Rolle spielt der Biofaktor Vitamin B12?“


Arzneimittel als Vitamin-B12-Räuber

Säureblocker

Protonenpumpenhemmer gehören nach wie vor zu den häufig verordneten Arzneimitteln in der Praxis. Säureblocker gegen Sodbrennen, Gastritis und andere Magenerkrankungen hemmen die Aktivität der Belegzellen im Magen. Belegzellen produzieren bekanntermaßen die Magensäure, die der Organismus jedoch braucht, um den Biofaktor Vitamin B12 aus dem Nahrungs­eiweiß zu lösen. Außerdem bilden die Belegzellen den für die Vitamin-B12-Resorption notwendigen Intrinsic Faktor. Die Folge: Bei einer Behandlung mit Säureblockern kann es zu einer Vitamin-B12-Unterversorgung kommen.7 Das Risiko für einen Vitamin-B12-Mangel wird durch eine langfristige Einnahme von H2-Blockern um 25 % und bei Protonenpumpenhemmern um 65 % erhöht.8

L-Dopa

In der neurologischen Praxis besonders relevant ist die Wechselwirkung zwischen L-Dopa-Medikation und Vitamin-B12-Status: Bei direkter intestinaler Zufuhr der L-Dopa/Carbidopa-Kombination tritt bei den meisten Patienten ein persistierender Mangel an Vitamin B12, Vitamin B6 und Folsäure auf.9 Patienten mit dieser Medikation müssen daher regelhaft substituiert werden. Weniger häufig, aber immer kontrollbedürftig, sind diese Vitaminspiegel auch bei oraler L-Dopa-­Medikation.10

Wo beginnt der Vitamin-B12-Mangel?

Serumblutspiegel des Gesamt-Vitamin-B12 von 200 bis 1.000 ng/l gelten als Normwerte, Werte darunter deuten auf einen Mangel hin. Allerdings ist das Gesamt-Vitamin-B12 ein später, vergleichsweise unsensitiver und gelegentlich ungenauer Biomarker eines Vitamin-B12-Defizits.11 „Die Diagnose des Vitamin-B12-Status allein über Messung des Gesamt-Vitamin-B12 im Blut ist daher nicht eindeutig möglich“, stellt in diesem Zusammenhang auch Prof. Reiners klar. Eindeutig ist der Vitamin-B12-Status nur bei sehr niedrigen und sehr hohen Serumspiegeln: Bei Blutspiegeln unter 200 ng/l ist ein schwerer Vitamin-B12-Mangel sehr wahrscheinlich, während bei einem Gesamt-Cobalamin-Spiegel über 400 ng/l von einer ausreichenden Vitamin-B12-Versorgung ausgegangen werden kann. Bei Blutwerten zwischen 200 und 400 ng/l ist eine Differenzierung mithilfe zusätzlicher Laborparameter sinnvoll (s. Abb. 1).

Marker für Vitamin-­B12-Mangel

    

Gesamt-
Vitamin-B12

> 400 ng/l

Mangel
unwahrscheinlich

 

 


Holo-TC
> 55 pmol/l

MMA
< 300 nmol/l

Mangel
unwahrscheinlich

200 –
400 ng/l

zusätzliche
Differenzierung sinnvoll

Holo-TC
36 – 55 pmol/l

MMA
> 300 nmol/l

Mangel

möglich

< 200 ng/l

Mangel sehr
wahrscheinlich

Holo-TC
< 35 pmol/l

NMA
> 300 nmol/l

Mangel

wahrscheinlich

Holo-TC: Holotrans­cobalamin, MMA: Methylmalonsäure

Abb.1: Marker zum Nachweis eines Vitamin-­B12-Mangels

Zuverlässiger und insbesondere im Frühstadium eines Mangels sensitiver ist die Messung von Holo­transcobalamin (Holo-TC), das den Status des tatsächlich aktiven Vitamin B12 wiedergibt. Erniedrigte Holo-­TC-Werte unter 35 pmol/l deuten auf einen Vitamin-B12-Mangel hin. Der „Graubereich“ liegt zwischen 36 und 55 pmol/l. In diesem Stadium treten noch keine klinischen oder hämatologischen Symptome auf.12 In Zweifelsfällen ist eine Messung der Methylmalonsäure (MMA) und/oder des Homocysteins ratsam, zwei funktionelle Indikatoren für einen Vitamin-B12-Mangel. Sind zusätzlich zu einem niedrigen Holo-TC-Spiegel die MMA- (> 300 nmol/l bzw. > 0,4 µmol/l) und Homocysteinspiegel erhöht (> 10 µmol/l), liegt intrazellulär ein metabolisch manifester Vitamin-B12-Mangel vor. Auch in diesem Stadium können klinische Symptome noch fehlen. Differentialdiagnostisch zu beachten ist, dass die MMA-Werte auch bei eingeschränkter Nierenfunktion erhöht sein können und auch ein Mangel an Folsäure und Vitamin B6 zur Hyperhomocysteinämie führen kann. Bleibt der Vitamin-B12-Status dennoch unklar, ist wegen der guten Verträglichkeit eine versuchsweise Vitamin-B12-Supplementation indiziert, deren Erfolg klinisch und anhand einer Normalisierung der genannten Laborparameter verifiziert werden kann.

An eine Vitamin-B12-Supplementierung denken

Eine Ernährungsumstellung reicht in der Regel nicht aus, um einen manifesten Vitamin-B12-Mangel auszugleichen – insbesondere, wenn zusätzliche Risiken wie Resorptionsstörungen oder eine Typ-A-Gastritis den Vitamin-B12-Mangel verschärfen. Daher sollte eine Substitutionstherapie durchgeführt werden, um der Entwicklung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen vorzubeugen. Selbst bei Patienten mit Resorptionsstörungen kann durch eine hochdosierte orale Supplementierung ein Vitamin-B12-Mangel ausgeglichen werden.13 Denn bei ausreichend hoher oraler Dosierung kann der Biofaktor auch unabhängig vom Intrinsic-Faktor durch passive Diffusion über die Darmschleimhaut aufgenommen werden. Nach oraler Verabreichung von 1.000 µg Vitamin B12 werden 10,5 µg über den Darm aufgenommen, davon nur 14 % über den IF und 86 % passiv über den Diffusionsmechanismus.14 Weiterhin konnte belegt werden, dass eine orale Hochdosistherapie von 1.000 µg Vitamin B12 bei Resorptionsstörungen besser verträglich ist als eine intramuskuläre Injektion.15,16

Bei Patienten mit schweren neurologischen Erkrankungen oder mit einer perniziösen Anämie ist initial eine parenterale Substitutionstherapie notwendig, die oral weitergeführt werden kann.

Literatur

1 Conzade R et al.: Prevalence and predictors of subclinical micronutrient deficiency in german older adults: Results from the population-based KORA-age study. Nutrients 2017, 9(12): 1276
2 Köbe T et al.: Vitamin B12 concentration, memory performance and hippocampal structure in patients with mild cognitive impairment. Am J Clin Nutr 2016 Apr, 103(4): 1045-54
3 Chen H et al.: Associations between Alzheimer's disease and blood homocysteine, vitamin B12 and folate: a case-control study. Curr Alzheimer Res 2015, 12(1): 88-94
4 Djukic M et al.: Frequency of dementia syndromes with a potentially treatable cause in geriatric in-patients: analysis of a 1-year interval. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2015 Aug, 265(5): 429-438
5 Wolters M et al.: Qualifizierte Ernährungsberatung in der Apotheke. Teil 3: neue Erkenntnisse zu Vitamin D und B12. Dtsch Apoth Ztg 2005, 145: 221-228
6 Gröber U, Kisters K, Schmidt J: Neuroenhancement with Vitamin B12 – underestimated neurological significance. Nutrients 2013, 5: 5031-5045
7 Mohn et al.: Evidence of drug-Nutrient interactions with chronic use of commonly prescribed medications: An update. Pharmaceutics 2018, 10: 36
8 Lam JR et al.: Proton pump inhibitor and histamine 2 receptor antagonist use and vitamin B12 deficiency. JAMA 2013 Dec, 310(22): 2435-42
9 Uncini A et al.: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2015, 86: 490-495
10 Klein, F. Parkinson-Therapie: Her mit den Vitaminen!. DNP 2015, 16: 14
11 Herrmann W et al.: Causes and early diagnosis of vitamin B12 deficiency. Dtsch Arztebl 2008, 105(40): 680-5
12 Reiners K: Vitaminkrankheiten. In: Hoffmann GF, Grau AJ (Hrsg): Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie. Stuttgart: Thieme, 2004, 163-176
13 Andrès et al.: Systematic review and pragmatic clinical approach to oral and nasal vitamin B12 (Cobalamin) treatment in patients with vitamin B12 deficiency related to gastrointestinal disorders. J Clin Med 2018, 7 (304)
14 Biesalski HK et al.: Ernährungsmedizin. Nach dem Curriculum Ernährungsmedizin der Bundesärztekammer, 5. Auflage, Stuttgart: Thieme, 2018
15 Bolaman Z et al.: Oral versus intramuscular cobalamin treatment in megaloblastic anemia: A single-center, prospective, randomized, open-label study. Clinical Therapeutics 2003, 25(12)

16 Vidal-Alaball JV et al.: Oral vitamin B12 versus intramuscular vitamin B12 for vitamin B12 deficiency. Cochrane Database. Syst Rev 2005 Jul, 20(3)
 

Dr. rer. nat. Daniela Birkelbach
Gesellschaft für Biofaktoren e. V. 
daniela.birkelbach@gf-biofaktoren.de
www.gf-biofaktoren.de

Die Gesellschaft für Biofaktoren e. V. ist ein gemeinnütziger Verein mit dem Ziel, die wissenschaftlichen Grundlagen der Therapie und Prophylaxe mit Biofaktoren zu fördern. Zu den Biofaktoren gehören insbesondere Vitamine und Mineralstoffe – Substanzen, die der Körper für seine physiologischen Funktionen benötigt und die gesundheitsfördernde oder krankheitsvorbeugende biologische Aktivitäten besitzen.