Experten-Konsens zur diabetischen Polyneuropathie

Bei etwa jedem dritten Patienten* mit Diabetes mellitus tritt im Verlauf seiner Erkrankung eine distal-symmetrische sensomotorische Polyneuropathie, die DSPN, auf. Sie gilt als eine der schwerwiegendsten diabetischen Folgeerkrankungen. Ein internationales Gremium von 15 Neuropathie-Experten hat nun ein Konsenspapier entwickelt, das Screening, Diagnose und Management der DSPN in der Praxis erleichtern soll.

Trotz der großen Auswirkungen auf Morbidität, Mortalität und Lebensqualität wird die diabetische Polyneuropathie in der Praxis nach wie vor unzureichend diagnostiziert und behandelt.1–3

Die DSPN kann aufgrund der teils starken Schmerzen und Missempfindungen in den unteren Extremitäten und dem erhöhten Risiko für die Entwicklung diabetischer Fußulzera die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen.4 Allerdings kann eine DSPN auch asymptomatisch verlaufen, wodurch die Diagnose mitunter erst spät gestellt wird. Dies ist bei etwa 50 % der Diabetespatienten der Fall.5

Die DSPN – 
drei Säulen der Therapie

1. Kausale Therapie: Optimierung der Diabeteseinstellung mit Insulin und/oder oralen Antidiabetika inklusive einer Lebensstil-Modifikation und kardiovaskulären Risikointervention

2. Pathogenetisch orientierte Pharmakotherapie mit dem Ziel, nicht nur die Symptome, sondern auch die neuropathischen Prozesse zu beeinflussen. Hier stehen das Antioxidans Alpha-Liponsäure8,9 und das lipidlösliche Thiamin-Derivat Benfotiamin10 zur Verfügung. Beide Biofaktoren konnten laut Studienlage DSPN-Symptome bessern und zeigen auch in der Langzeitbehandlung ein gutes Sicherheitsprofil.11–14

3. Symptomatische Behandlung neuropathischer Schmerzen mit Antidepressiva, Antikonvulsiva, Opioiden, Capsaicin-Pflaster und Kombinationen, falls nötig. 

Was sind die Empfehlungen aus dem Experten-Konsens?6

Aufgrund des möglichen asymptomatischen Verlaufs und weil die DSPN nicht länger als erst spät eintretende Komplikation des Diabetes mellitus angesehen wird, sollte das Screening frühzeitig erfolgen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft beispielsweise empfiehlt bei Typ-2-Diabetikern ein Screening zum Zeitpunkt der Diabetesdiagnose. Eingeschlossen sind Anamnese, Nachweis neuropathischer Beschwerden anhand validierter Neuropathie-Scores und -Fragebögen, Inspektion und klinische Untersuchung der Füße sowie neurologische Tests.

Bei der DSPN können sowohl die dünnen als auch die kaliberstarken Nervenfasern betroffen sein. Daher sind bei dem Screening verschiedene Tests zur Beurteilung unterschiedlicher Nervenfasertypen sinnvoll:

  • Der Nachweis einer beidseitigen Verschlechterung des Vibrationsempfindens der unteren Extremitäten – mithilfe der Rydel-Seiffer-Stimmgabel bei dicken und des Schmerzempfindens bei dünnen Nervenfasern – durch Messung dorsal auf der Großzehe wurde in dem Experten-Konsens als minimale Diagnostik-Maßnahme gewertet.
  • Um Funktion, Schmerz- und Temperaturempfinden der kleinen Nervenfasern zu beurteilen, werden verschiedene Tests, zum Beispiel Neurotips, Neuropen, Tip Therm oder das kalte Metall der Stimmgabelgewichte empfohlen.
  • Das Druck- und Berührungsempfinden sollte mithilfe des 10-g-Monofilaments, alternativ mit einem Wattestäbchen, untersucht werden.
  • Die Beurteilung der autonomen Nervenfunktion durch Messung der Schweißproduktion oder elektrochemischen Leitfähigkeit der Haut sowie Herzfrequenzvariabilitäts- und Orthostasetest zum Nachweis einer kardiovaskulären autonomen diabetischen Neuropathie ermöglichen quantifizierbare Testergebnisse.7
  • Die Deutsche Diabetes Gesellschaft gibt zudem Hinweise auf weiterführende Untersuchungen bei Verdacht auf eine DSPN.3

Fazit für die Praxis?

Bei Patienten mit Diabetes sollte möglichst frühzeitig ein Screening zum Nachweis einer DSPN erfolgen – möglichst nach den Empfehlungen des hier zitierten Experten-Konsens. Zudem sollte im Rahmen der pathogenetisch orientierten Therapie der DSPN den Biofaktoren Alpha-­Liponsäure und Benfotiamin ein fester Platz eingeräumt werden. Aufgrund ihrer antioxidativen und die Nervenregeneration fördernden Wirkung hat sich Alpha-Liponsäure therapeutisch bewährt, wobei die komplementäre Wirkung mit Benfotiamin synergistisch genutzt werden kann.16


►Mehr zur Rolle von Alpha-Liponsäure und Vitamin B1 bei neuropathischen Erkrankungen finden Sie hier: Distale symmetrische Polyneuropathie – Rolle von Alpha-Liponsäure und Vitamin B1
 

Literatur

1 Ziegler D et al.: DDG-Praxisempfehlung. Diabetische Neuropathie. Diabetologie 2020; 15, Suppl 1: S181-S195
2 Ziegler D et al.: Painful and painless neuropathies are distinct and largely undiagnosed entities in subjects participating in an educational initiative (PROTECT-Study). Diabetes Res Clin Pract. 2018; 139: 147-154
3 Ziegler D et al.: Polyneuropathy is inadequately treated despite increasing symptom intensity in individuals with and without diabetes (PROTECT follow‐up study). J Diabetes Investig 2020 Sep; 11(5): 1272-1277
4 Reiners K, Haslbeck M: Sensomotorische diabetische Neuropathien. Diabetologie 2006; 2: 92-103
5 Pop-Busui R et al.: Diabetic Neuropathy: A position statement by the America Diabetes Association. Diabetes Care 2017; 40(1): 136-154
6 Ziegler D et al.: Screening, diagnosis and management of diabetic sensorimotor polyneuropathy in clinical practice: International expert consensus recommendations. Diabetes Res Clin Pract 2022 Apr; 186: 109063
7 Stirban OA: Diabetische Neuropathie: aktuelle Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie. www.rosenfluh.ch/arsmedici-2022-13/diabetische-neuropathie-aktuelle-empfehlungen-zur-diagnostik-und-therapie
8 Han T et al.: A systematic review and meta-analysis of α-lipoic acid in the treatment of diabetic peripheral neuropathy. Eur J Endocrinol 2012; 167(4): 465-471
9 Agathos E et al.: Effect of alpha-lipoic acid on symptoms and quality life in patients with painful diabetic neuropathy. J Intern Med Research 2018; 46(5): 1779-1790
10 Loew D: Pharmacokinetics of thiamine derivatives especially of benfotiamine. Int J Clin Pharm Ther 1996; 34(2): 47-50
11 Cassanego G et al.: Evaluation of the analgesic effect of ɑ-lipoic acid in treating pain disorders: A systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Pharmacol Res 2022 Mar; 177: 106075
12 Ziegler D et al.: Treatment of symptomatic diabetic polyneuropathy with the antioxidant alpha-lipoic acid: a meta-analysis. Diabet Med 2004 Feb; 21(2): 114-121
13 Stirban A: Therapie der diabetischen Neuropathie. 27. Kongress der Föderation der Internationalen Donau-Symposia über Diabetes mellitus. Diabetes-Congress-Report 2013; 2: 4-10
14 Balakumar P et al.: The multifaceted therapeutic potential of benfotiamine. Pharmacol Res 2010 Jun, 61(6): 482-488
15 Stracke H et al.: Benfotiamine in diabetic polyneuropathy (BENDIP): results of a randomised, double blind, placebo-controlled clinical study. Exp Clin Endocrinol Diabetes 2008, 116: 600-605
16 Du X et al.: Oral benfotiamine plus alpha-lipoic acid normalises complication-causing pathways in type 1 diabetes. Diabetologia 2008, 51: 1930-1932

Dr. Daniela Birkelbach
Gesellschaft für Bio­faktoren e. V. 
daniela.birkelbach@
gf-biofaktoren.de
www.gf-biofaktoren.de

Die Gesellschaft für Biofaktoren e. V. ist ein gemeinnütziger Verein, der das Ziel verfolgt, die wissenschaftlichen Grundlagen der Therapie und Prophylaxe mit Biofaktoren zu fördern. Weitere Informationen: www.gf-biofaktoren.de

*Zur besseren Lesbarkeit kann in Texten das generische Maskulinum verwendet werden. Nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.