Die Bedeutung von Vitamin-B1- und Vitamin-B12 für die neuropathische Diabetes

Jeder dritte Diabetiker entwickelt im Verlauf der Erkrankung eine diabetische Neuropathie. Bei etwa einem Drittel der Patienten kommt es zu mitunter starken neuropathischen Schmerzen. Die symptomatische Schmerztherapie zeigt oft nicht die gewünschte Wirkung, dafür aber teils schwere Nebenwirkungen. Vor diesem Hintergrund erhält die Möglichkeit einer gut verträglichen und nebenwirkungsarmen Behandlung mit Biofaktoren besonderes Gewicht. Die wichtigste Rolle spielen hier die Vitamine B1 und B12 sowie die alpha-Liponsäure, die im folgenden Beitrag beschrieben werden.

Neben Hyperglykämie als Haupt­ursache und weiteren Faktoren, wie oxidativem Stress, einer vermehrten Entzündungsreaktion sowie Veränderungen der Mikrozirkulation1 und den Risikofaktoren metabolisches Syndrom, Rauchen und Alkoholkonsum gelten ein Vitamin-B1- und Vitamin-B12-Mangel als mögliche Ursachen für die Entwicklung einer Neuropathie bei Dia­betikern.2

Die diabetische Neuropathie: Welche Rolle spielt Vitamin B1?

Ein Vitamin-B1-Mangel des Diabetikers wird durch krankheitsbedingte renale Verluste ausgelöst, obwohl wegen der Hyperglykämie ein erhöhter Bedarf besteht.3 Symp­tomatisch zeigt sich der Mangel durch eine periphere Neuropathie mit Empfindungsstörungen v. a. in den Füßen, wie Kribbeln, Brennen und Taubheitsgefühl, sowie neuropathischen Schmerzen.

In der Behandlung des Vitamin-B1-Mangels bei Diabetikern mit Neuropathie hat die Vitamin-B1-Vorstufe Benfotiamin einen wichtigen Stellenwert eingenommen. Das lipidlösliche Vitamin-B1-Derivat Benfotiamin zeichnet sich durch eine signifikant höhere Bioverfügbarkeit im Vergleich zu wasserlöslichen Thia­min-Salzen aus.4,5 Es kann einen nervenschädigenden Thiamin-Mangel ausgleichen und über die Aktivierung des Enzyms Transketolase pathogene Stoffwechselwege hemmen, unter anderem die Produktion der Advanced Glycation Endproducts (AGEs).6,7 Dadurch wirkt das Provitamin zelltoxischen metabolischen Veränderungen entgegen, die Mikro- und Makroangiopathien verursachen. Durch Ausgleich eines Mangels kann Benfotiamin Symptome einer Neuropathie lindern. In klinischen Studien an Diabetikern mit Neuropathie wurde nachgewiesen, dass Benfotiamin zu einer Verbesserung der klinischen Symptomatik und des Neuropathy Symptom Scores (NSS) gegenüber Placebo führen kann.8,9,10 Objektivierbar war der Benfotiamin-Effekt anhand der verbesserten Nervenleitgeschwindigkeit.

Der Nachweis eines Vitamin-B1-Mangels mittels Blutuntersuchung kann sich in der Praxis als schwierig erweisen, da die Blutspiegel in Plasma und Serum nicht immer eine zuverlässige Aussage ermöglichen. Daher empfiehlt sich bei Diabetespatienten mit Verdacht auf Neuropathie ein Therapieversuch mit Vitamin B1.

Vitamin-B12-Mangel geht an die Nerven

Das bei vielen Typ-2-Diabetikern verordnete Standard-Antidiabetikum Metformin beeinflusst nicht nur den Glukose-Stoffwechsel, sondern erhöht bei Langzeiteinnahme das Risiko für einen Vitamin-B12-Mangel11, da es die intestinale Resorption des Biofaktors behindert. Die Gefahr für einen Vitamin-B12-Mangel bei Diabetikern unter Metformin ist dreifach erhöht im Vergleich zu Nicht-­Diabetikern12,13 und doppelt so hoch im Vergleich zu Diabetikern ohne Metformin-Therapie.14 Patienten, die mehr als 10 Jahre Metformin einnahmen, hatten häufiger ein Vitamin-B12-Defizit als Patienten mit kürzerer Einnahme.9

Bleibt ein Vitamin-B12-Mangel unbehandelt, können langfristig teils irreversible neurologische Schädigungen wie Polyneuropathie oder Hirnleistungsstörungen die Folge sein. Vor allem die Hinterstränge des Rückenmarks reagieren sensibel auf eine Unterversorgung mit Vitamin B12. Es kann zur funikulären Myelose mit den typischen Folgen – distal betonte Parästhesien vor allem der unteren Extremitäten sowie Stand- und Gangataxie mit erhöhter Sturzneigung – kommen.15 „Im peripheren Nervensystem verursacht ein Vitamin-B12-Mangel eine periphere sensible Polyneuropathie mit sockenförmig verteilten Störungen der Oberflächensensitivität. Wird der Vitamin-B12-Mangel rechtzeitig erkannt und behoben, sind einige Schäden reversibel. Bei weiter fortschreitender Erkrankung sind die Nervenschäden allerdings irreparabel“, warnte der Neurologe Prof. Karlheinz Reiners auf dem Online-Symposium der Gesellschaft für Biofaktoren (GfB).16

Die Möglichkeit einer effektiven Vitamin-B12-Substitution durch orale Gabe stellt für viele Patienten eine Erleichterung dar. Selbst bei Patienten mit Resorptionsstörungen kann durch hochdosierte orale Supplementierung ein Vitamin-B12-Mangel ausgeglichen werden – und zwar unabhängig vom Intrinsic-Faktor durch passive Diffusion über die Darmschleimhaut.17

Wo beginnt der Vitamin-B12-Mangel?


„In der Praxis kann das Vorliegen eines Vitamin-B12-Mangels übersehen werden, da er neben neurologischen Beschwerden auch unspezifische Symptome wie Müdigkeit, Gewichtsabnahme und Inappetenz verursacht. Daher ist die Frühdiagnostik eines Vitamin-B12-Mangels angezeigt“,
betonte Frau Prof. Marija Djukic, Fachärztin für Neurologie, Neurologische Geriatrie und leitende Oberärztin Geriatrie des Evangelischen Krankenhauses in Göttingen-Weende, auf dem Online-Symposium der GfB.14


Serumspiegel des Gesamt-Vitamin-B12 von 200 bis 1.000 ng/l gelten als Normwerte, Werte darunter deuten auf einen Mangel hin. Allerdings ist das Gesamt-Vitamin-B12 ein später, vergleichsweise unsensitiver und gelegentlich ungenauer Biomarker eines Vitamin-B12-Defizits.18,19 Daher ist bei Blutwerten zwischen 200 und 400 ng/l eine Differenzierung mit Hilfe der Messung von Holotranscobalamin (Holo-TC) ratsam, das den Status des tatsächlich aktiven Vitamin B12 wiedergibt. Erniedrigte Holo-TC-Werte unter 35 pmol/l sichern einen Vitamin-B12-Mangel. Der „Graubereich“ liegt zwischen 36 und 55 pmol/l. In Zweifelsfällen ist zusätzlich eine Messung der Methylmalonsäure (MMA) und/oder des Homocysteins ratsam, die als Vitamin-B12-abhängige Metabolite dessen intrazelluläre Aktivität widerspiegeln: Sind zusätzlich zu einem niedrigen Holo-TC-Spiegel die MMA- (> 300 nmol/l bzw. > 0,4 µmol/l) und/oder Homocysteinspiegel (> 10 µmol/l) erhöht, liegt in den Körpergeweben ein manifester Vitamin-B12-Mangel vor.

FazitDie GfB empfiehlt, in der neurologischen Praxis in Prävention und Therapie der diabetischen Neuropathie den Vitaminen B1 und B12 einen festen Platz einzuräumen. Der zielgerichtete Ausgleich von Mangelzuständen durch Supplementierung kann den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Aufgrund ihrer antioxidativen und nervenregenerierenden Wirkung hat sich therapeutisch die Alpha-Liponsäure bei der diabetischen Polyneuropathie bewährt, wobei die komplementäre Wirkung mit Benfotiamin synergistisch genutzt werden kann.24 

Alpha-Liponsäure wirkt antioxidativ und nervenregenerierend

Bei der diabetischen Stoffwechsellage ist nicht nur die Blutglukosekonzentration erhöht, sondern auch der Zuckergehalt in den Nervenzellen. Das überfordert den regulären Glukoseabbau, und es kommt zu erhöhtem oxidativem Stress durch Anstieg reaktiver Sauerstoff-Radikale. Diese aktivieren Stoffwechselprozesse, die zur Entwicklung diabetischer Komplikationen beitragen. Außerdem kommt es zu Entzündungen und Gewebeschädigungen, die die Nerven beeinträchtigen. Auch die Blutgefäße sind von Oxidationsprozessen betroffen, wodurch die Blutversorgung in den Nerven herabgesetzt wird. Alle Prozesse können die motorischen und sensiblen Nerven zerstören.

Hier setzt Alpha-Liponsäure (ALA) an: Aufgrund seiner Molekülstruktur ist das Vitaminoid ALA in hohem Maße antioxidativ wirksam und greift in die Pathogenese der oxidativ bedingten Nervenschädigungen ein.20 ALA stellt die Blutspiegel des zellschützenden Glutathions wieder her, erhöht die antioxidative Kapazität in den Geweben, reduziert Entzündungsparameter im Blutplasma und wirkt in der Nervenzelle als Cofaktor für Enzyme, die wiederum einen geregelten Glukoseabbau bewirken. Aufgrund dieser Prozesse kann sich die Situation in den geschädigten Nerven bessern, indem der Blutfluss im Inneren der Nerven erhöht, die Nervenleitgeschwindigkeit verbessert und die sensorische Schmerzwahrnehmung positiv beeinflusst werden.21

Kombinationstherapie Injekt und oral

ALA gilt als bedeutsames aktives, natürliches Prinzip, dessen Wirksamkeit im Hinblick auf die Schmerzwahrnehmung bei diabetischer Neuropathie dokumentiert ist.22 Nervenfunktion und dadurch auch die Symptomatik der diabetischen Neuropathie können verbessert werden. Daher wird eine ALA-Therapie in Leitlinien zur Behandlung der diabetischen Neuropathie als Level-II-Empfehlung geführt.23 Bei ausgeprägten Missempfindungen wird eine Kombinationstherapie aus intravenöser und oraler Darreichung empfohlen: Initial eine tägliche Infusion mit 600 mg ALA über zwei bis vier Wochen und anschließend langfristig täglich 600 mg ALA oral.

 

►Die Gesellschaft für Biofaktoren e. V. ist ein gemeinnütziger Verein, der das Ziel verfolgt, die wissenschaftlichen Grundlagen der Therapie und Prophylaxe mit Biofaktoren zu fördern. Zu den Biofaktoren gehören insbesondere Vitamine und Mineralstoffe – Substanzen, die der Körper für seine physiologischen Funktionen benötigt und die gesundheitsfördernde oder krankheitsvorbeugende biologische Aktivitäten besitzen.
Die von der Ärztekammer zertifizierte Aufzeichnung des oben erwähnten Online-Symposiums inklusive Lernerfolgskontrolle sowie ausführliche Informationen auch zu anderen Biofaktoren stehen Ihnen auf der Webseite der Gesellschaft für Biofaktoren www.gf-biofaktoren.de zur Verfügung. 

Literatur

1 Bönhof GJ et al.: Emerging biomarkers, tools, and treatments for diabetic polyneuropathy. Endocrine Review 2018. DOI: 10.1210/er.2018-00107
2 Ziegler D et al.: Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Thieme Verlag Stuttgart, Oktober 2019, 14. Jahrgang
3 Reiners K et al.: Sensomotorische diabetische Neuropathien. Diabetologe 2016, 2: 92-103
4 Schreeb KH et al.: Comparative bioavailability of two vitamin B1 preparations: benfotiamine and thiamine mononitrate. Eur J Clin Pharmacol 1997; 52(4): 319-320
5 Loew D: Pharmacokinetics of thiamine derivatives especially of benfotiamine. Int J Clin Pharm Ther 1996; 34(2): 47-50
6 Hammes HP et al.: Benfotiamine blocks three major pathways of hyperglycemic damage and prevents experimental diabetic retinopathy. Nature Medicine 2003; 9: 294-299
7 Raj V et al.: Therapeutic potential of benfotiamine and its molecular targets. Eur Rev Med Pharmacol Sci 2018; 22: 3261-3273
8 Stirban A: Therapie der diabetischen Neuropathie. 27. Kongress der Föderation der Internationalen Donau-Symposia über Diabetes mellitus. Diabetes-Congress-Report 2013; 2: 4-10
9 Balakumar P et al.: The multifaceted therapeutic potential of benfotiamine. Pharmacol Res 2010 Jun, 61(6): 482 ff
10 Stracke H et al: Benfotiamine in diabetic polyneuropathy (BENDIP): results of a randomised, double blind, placebo-controlled clinical study. Exp Clin Endocrinol Diabetes 2008, 116: 600-605
11 Chapman et al.: Association between metformin and vitamin B12 deficiency in patients with type 2 diabetes: A systematic review and meta-analysis. Diabetes metab 2016 Apr 26
POI: 10.1016/j.diabet.2016.03.008
12De Groot-Kamphuis DM et al.: Vitamin B12 deficiency and the lack of its consequences in type 2 diabetes patients using metformin. Neth J Med 2013 Sep, 71(7): 386-390
13Damião CP et al.: Prevalence of vitamin B12 deficiency in type 2 diabetic patients using metformin: a cross-sectional study. Sao Paulo Med J 2016 June 03, ISSN 1516-318
14Yang W et al.: Associations between metformin use and vitamin B12 level, anemia and neuropathy in patients with diabetes: a meta-analysis. J Diabetes 2019 Sep, 11(9): 729-743
15 Wolffenbuttel BHR et al.: The Many Faces of Cobalamin (Vitamin B12) Deficiency. Mayo Clin Proc Inn Qual Out 2019; 3(2): 200-214
16 Online-Symposium der Gesellschaft für Biofaktoren. „Biofaktoren – Stellenwert in der Prävention und Therapie ausgewählter Volkskrankheiten“ am 14. November 2020. Die zertifizierte Fortbildung können Sie unter www.gf-biofaktoren.de abrufen. Die Veranstaltung fand als Online-Seminar bei der Ganzimmun-Akademie (www.ganzimmun.de) statt und wurde von den Firmen Wörwag Pharma und Ganzimmun Diagnostik unterstützt.
17 Andrès et al.: Systematic review and pragmatic clinical approach to oral and nasal vitamin B12 (Cobalamin) treatment in patients with vitamin B12 deficiency related to gastrointestinal disorders. J Clin Med 2018, 7 (304)
18 Herrmann W et al.: Causes and early diagnosis of vitamin B12 deficiency. Dtsch Arztebl 2008, 105(40): 680-5
19 Reiners K: Vitaminkrankheiten. In: Hoffmann GF, Grau AJ (Hrsg): Stoffwechselerkrankungen in der Neurologie. Stuttgart: Thieme, 2004, 163-176
20 Han T et al.: A systematic review and meta-analysis of α-lipoic acid in the treatment of diabetic peripheral neuropathy. Eur J Endocrinol 2012; 167(4): 465-471
21 Agathos E et al.: Effect of alpha-lipoic acid on symptoms and quality life in patients with painful diabetic neuropathy. J Intern Med Research 2018; 46(5): 1779-1790
22 Battisti E et al.: Alpha lipoic acid and superoxid dismutase in the treatment of chronic low back pain. Eur J Phys Rehabil Med 2013; 49: 1-6
23 Khalil H et al.: Painful diabetic neuropathy management. Int J Evid Based Healthc 2013; 11: 77-79
24 Du X et al.: Oral benfotiamine plus alpha-lipoic acid normalises complication-causing pathways in type 1 diabetes. Diabetologia 2008, 51: 1930-1932

Dr. Daniela Birkelbach
Gesellschaft für Biofaktoren e. V. 
daniela.birkelbach@gf-biofaktoren.de
www.gf-biofaktoren.de